Und sie wunderten sich sehr
als ob sie ein Fenster wäre, in das man nicht hineinschauen könnte. Ein Blick, der sagt: Sie sei verschlossen, verborgen, dunkel und geheimnisvoll. Schon jetzt spürt sie diese seltsam dämlichen Urteile über Menschen, die nicht sehen.
»Und die Klarheit des Herrn leuchtet …« Ein Leuchten, das die Dinge endlich mal klarstellen würde. Ein Leuchten, das Schluss machen würde mit den Schubladen – entweder die Schublade, jeder Blinde sei besonders begabt, oder die Schublade, Blindsein bedeute ausschließlich Mitleid suchende Hilfsbedürftigkeit. Dann gab es da noch die Schublade des ewigen Kindes.
Von wegen »ihrer Herrlichkeit Glanz hat nur der Blinde erschaut …« Schiller hat doch nichts verstanden! Die Klarheit des Herrn, eines Gottes oder wessen auch immer, soll bitte schön die Studentin anschauen und nicht die Studentin die Klarheit des … wer auch immer.
Die Orgelspielerin wendet sich um. Sie schaut jetzt in die wirklich unheimlich dunkle Kirche, die sie eben noch im Rücken hatte. Langsam klettert sie mit steif gewordenen Beinen von der Orgelbank. Hier oben auf der Empore steht sie jetzt wie die Königin, die hinabschaut auf das Reich der leeren Bänke. Die Königin der Nacht? Manchmal steckt so viel Ärger in ihr, dass sie tatsächlich zu so einer Koloraturen singenden Nachtfurie werden könnte. »Wahrscheinlich war die Königin auch blind, sonst hätte sie doch die Nacht nicht dem Tag vorgezogen …«
»Wer die Nacht liebt, ist ein Feind …?« – Nicht für die, die jetzt alles sehen kann, wenn auch nur für den Bruchteil eines Augenblicks!
Irgendwie scheint die Birne im Stern durchgebrannt zu sein – »schaut hin, der liegt im finstern Stall, des Herrschaft gehet überall …« All die frommen Worte. Was ist das für eine Herrschaft – nicht zu sehen, selten zu spüren, aber da? Wer oder was, welches »Du«, ist jetzt noch anwesend?
|128| Sie schüttelt den Kopf: »Räum mal dein Hirn auf, aber vorher: Üb deinen Part. Das ist, was du brauchst.«
Die Hände sind steif vor Kälte. Jeder Ton wird zur Anstrengung. Nachdem sie sich wieder auf die Orgelbank gesetzt hat, wagt sie nicht mehr aufzustehen. Die Müdigkeit könnte zu mächtig werden. Die Ängstlichkeit. Noch kommen die Töne. Registerwechsel. Schon hört sie den Chorleiter sagen: »Das klingt aber irgendwie … unerlöst …« – Einmal mit den Unterarmen quer auf’s Manual. Die Orgel schreit auf.
Schlimmer als unerlöst, ist es, unausgeschlafen zu sein. So setzt sie sich doch für einen kleinen Moment – »aber wirklich nur kurz!« – auf die Stufen neben der barocken Orgel. Die Engelköpfchen zwischen den riesigen Orgelpfeifen gucken mild und kindlich über sie hinweg in den schwarzen Kirchraum. Sie weiß das, ohne den Kopf nach oben zu heben. Augen von anderen – ob Putten oder Menschen – mag sie nicht mehr so gern anschauen. Es lähmt etwas in ihr.
Nur einmal kurz ausruhen, die Arme hängen lassen, Schultern lockern, Augen schließen. Die Stille. Die Kälte.
Sie gleitet trotzdem in den Traum. Alle stehen auf der Empore, die Sopranistin, mit unverwechselbarem Tremolo. Die viel zu scheue Mittvierzigerin im Alt, die vor lauter Peinlichkeit den eigenen Einsatz in neun von zehn Fällen verpasst. Sie sieht den arbeitslosen Bass, der seit Jahren mitsingt, aber bei den Proben immer wieder nasse Augen und eine brüchige Stimme bekommt: »… zu ruhn in meines Herzens Schrein, dass ich nimmer vergesse dein.« Der Tenor, Mitte 40, der nicht eine Note lesen kann, sondern auf rätselhafte Weise alles nach Gehör singt. In den Probepausen bleibt er immer kerzengerade auf seinem Platz sitzen, schaut auf ein und denselben Punkt im Kirchraum und wirkt, als sei sein Innerstes verreist – an einen fernen Ort.
Man kann tatsächlich zusammen singen »Dies hat er alles uns getan« und so wenig voneinander wissen … Das gilt auch für den Stimmbildner. Er ist immer zu den Proben da. |129| Darüber hinaus hilft er auch der Organistin regelmäßig an der Orgel. Dann ist er nämlich ihr Auge in den Kirchraum hinein, assistiert gewissermaßen durch den Gottesdienst oder durch Konzerte und sagt, nein: flüstert ihr, was unten im Kirchraum geschieht. Denn auf die Entfernung kann sie selbst mit größter Anstrengung nichts mehr erkennen. Aber was macht dieser Eben-noch-Assistent jetzt hier?
Er summt ihr die Melodie eines Liedes ins Ohr. Sie kennt es im Schlaf – und möchte fast mitsummen:
»
Von Gott kommt mir ein Freudenschein, wenn du mich
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