Und sie wunderten sich sehr
einander |118| verwandt sind sie mit den Nachtarbeitern in der Stadt. Ich war einer von ihnen, immerhin mal für die Hälfte einer Nacht.
Wahrscheinlich hat jedes Lebensalter seine Schwächen und seine Krankheiten. Ich stelle meine gerade etwas deutlicher fest. Und ich nehme an, auch die ältere Generation kennt das, ohne viel darüber zu reden. Es ist nichts Aufdringliches, aber es klopft an, wenn ich mein Arbeitsprogramm so abspule und manchmal stundenlang nichts anderes sehe als meinen Computer. Computer können nur eins: ihr Programm runterrattern. Sie bringen es einfach nicht fertig zu zögern. Ich bin in einem Lebensalter, in dem ich mehr zögern, mehr anhalten möchte, mich umsehen und etwas neu sehen lernen möchte. Mit 45 Jahren wird langsam klarer, ich muss nicht aus jeder meiner Schwächen eine Stärke zaubern und aus jeder Verwundung oder Enttäuschung irgendetwas Gutes herausholen müssen. Kann man die Dinge nicht endlich auch mal so benennen und belassen, wie sie sind: nicht immer gut?
Nicht gut waren für mich die vergangenen ungefähr 30 Weihnachtsfeste mit meiner Familie. Ich rede nicht von den Kinder-Weihnachtstagen. Was hätte ich daran auszusetzen? Ich rede von unserer Art und Weise, als Familie erwachsen Weihnachten zu feiern. Ich bin dieses Rituals überdrüssig geworden und werde nicht acht Stunden Zugfahrt auf mich nehmen, meine Eltern für 24 oder auch 28 Stunden besuchen, mittendrin tödlich gelangweilt sein von den lautstarken Materialschlachten meiner pubertierenden Nichten und Neffen und dann halb benommen und tödlich uninspiriert wieder in mein Stadtleben zurückkehren. Ich habe mir nie etwas aus Dingen gemacht. Meine zwei Zimmer hier in der Stadt beinhalten fünf Möbelstücke. Ein skandalöser Kontrast zum Häuschen meiner Eltern in München-Pasing. Ich bin im Minimum heimisch.
Meinen Eltern bleibt das sicherlich fremd. So fremd wie meine Entscheidung, die Anwaltskanzlei nur noch im Kleinen fortzuführen und dafür mehr Theater zu spielen, so |119| fremd wie meine Entscheidung, lieber angehende Schauspieler im Fechten zu unterrichten für 100 Euro Aufwandsentschädigung, als angehende Juristen in Repetitorien auf das Examen zu trimmen für das mindestens Achtfache an Bezahlung. Ich bin die Frage nach Geschenken leid. Meine Eltern stellen sie schon länger nicht mehr. Ich habe alles, weil ich mich entschlossen habe, so gut wie nichts zu haben.
Ich wollte Heiligabend gern etwas für andere tun, nicht für mich. Für mich tue ich ja schon alles den Rest des Jahres. Meine Nachbarin im selben Aufgang hatte mich auf diese Spur gesetzt, und jetzt gingen wir einfach gemeinsam darauf zu.
Ich habe Heiligabend für 300 Gäste in einer gar nicht mal so schlecht geheizten Kirche Rosenkohl und Rotkohl ausgetragen. Wie man es anstellt, dass alle gleichzeitig etwas zu essen erhalten? Nicht so einfach! Die Kohlsorten müssen nämlich auch unterschiedlich behandelt werden, habe ich gelernt. Unter den 300 Gästen waren ganze Familien – schon seit dem Kaffeetrinken mit riesigen Torten und selbst gebackenen Kuchen. Etwa 200 von ihnen waren Wohnungslose, die anderen waren Flüchtlinge: Serbokroatisch, Kurdisch, Armenisch und Russisch habe ich gehört, bilde ich mir zumindest ein. Egal ob Flüchtling oder wohnungslos, alle haben denselben mit Plastiktüten überzogenen Stuhl erhalten. Ich frage mich, wer hier wen wovor schützen wollte. Heilig Abend auf einem Stuhl mit blauen Müllbeuteln verklebt. Das hat es nicht gerade gemütlich gemacht. Gemütlich ist wahrscheinlich auch insgesamt nicht das richtige Wort für diese Massenweihnacht. Es war laut und geschwätzig und Gott sei Dank wegen des großen Kirchenraums nicht stickig. Mir war dabei gar nicht so unwohl. Wir haben eine kleine Ausgabekette gebildet – meine Nachbarin, ich, die Chefin und ein Ehepaar – vielleicht zehn Jahre jünger als meine Eltern. Die machen das jetzt schon das sechste Mal, und es würde von Jahr zu Jahr besser werden, sagt die Frau. Von Jahr zu Jahr mehr Spaß.
|120| »Welcher Kummer muss im eigenen Wohnzimmer vergraben sein, dass man diesen Abend hier mit jährlich wachsendem Spaß betrachtet?«, hat meine Nachbarin gerätselt. Mir kam so eine Frage nicht. Man muss nicht immer das ganz große Drama erlebt haben, die ganz große, spektakuläre Umwendung aller Gewissheiten, um mal was Neues auszuprobieren. Sieht man ja an mir. Viel Zeit zum Reden war jedenfalls nicht. Ich hatte neben dem Rosenkohl und dem Rotkohl auch die
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