Und sie wunderten sich sehr
will dir leben hier …«
Im Internat in Weimar hat sie das Gefühl kennen gelernt, vieles zu können, ohne es wirklich sehen zu müssen. Sie fühlte sich dort wie die Botschafterin eines Landes, in dem man nicht gut sehen, sondern vor allem gut hören sollte. So einfach ist das – meistens! Das Internat war mehr Flucht als |125| alles andere. Aber hier hat sie das Abitur geschafft, ihr Musikstudium vorbereitet und mit diesem Wunsch ihre Eltern noch mehr vor den Kopf gestoßen als mit ihrer Entscheidung, 1 6-jährig und massiv sehbehindert in eine andere Stadt zu ziehen. Für sie aber war es genau der rettende Abstand, der eigentlich räumlich offenbarte, was schon lange bestand. Aus eigener Kraft hätten die Eltern ja ihre Deutungsmacht über die Krankheit der Tochter nicht abgegeben: »Du hast doch nur uns.«
Überforderte Eltern sind schlimm; sich selbst bemitleidende und überforderte Eltern sind noch schlimmer. Damals zumindest waren sie es.
»Ich will dir leben hier, dir will ich abfahren, mit dir will ich endlich schweben, voller Freud ohne Zeit, dort im andern Leben.« Die Worte zu der Melodie, die unter ihren Händen und Füßen entsteht, weben sich in ihre Gedanken.
Anders leben, das steht doch noch aus; das geht doch bestimmt erst los, so wie ein Zug, dessen Abfahrt angekündigt wird. Wann geht es los? Auf irgendetwas scheint das Zugpersonal noch zu warten. Die Sekunden dehnen sich in gefühlte Ewigkeit. »… dir will ich abfahren …« So ein »Du«, das kann sie sich gut vorstellen. Der Gedanke an ein »Du« ist zumindest wohltuender als der ans Ich.
»Schließe mein Herze, dies selige Wunder fest in deinen Glauben ein! Lass diese Wunder, die göttlichen Werke, immer zur Stärke deines schwachen Glaubens sein.« Kennt sie einen anderen Zustand als Schwäche? Seitdem sie über sich nachdenken kann, scheint sie nur in der Kategorie des Schwachseins von sich gedacht zu haben. Wie es vorher gewesen sein muss, kann sie sich nicht mehr in Erinnerung rufen. Ihre einzige Stärke besteht wahrscheinlich darin, ihre Schwäche gut zu verstecken. Warum aber verstecken? Die entstellende Brille – noch ist es eine Brille –, die schreibt ihr die Schwäche auf die Nase, entstellt alles Schöne und provoziert bloß Bedauern und Befremden. »Mein Augenstern«, hat ihr Vater hin und wieder gesagt, wenn er ganz besonders guter Laune und sie als Tochter ganz besonders |126| guter Leistung gewesen war. Als das Augenlicht immer schwächer wurde, schien es ihm wohl nicht mehr so passend. Wann hatte sie das ein letztes Mal gehört: »Mein Augenstern«? Heute tauschen sie Oberflächlichkeiten aus, lose und schwach sind ihre Wortwechsel.
Schwach ist auch das, was da noch an Glauben in ihr heruntergedimmt ist, noch schwächer als das kleine Zackenlicht im Rückspiegel – von ihr nur gewusst, aber nicht mehr wirklich gesehen. Der »Augenstern« hat den Glauben zwischengelagert. Gerade so wie ihre Sachen, die nicht mehr in die Studentenbude passen. Auch die sind irgendwo verstaut für eine geringe Monatsmiete. So lagert ihr bisschen Glaube wahrscheinlich in den Stimmen und Takten, die sie vor sich aufgeschlagen sieht und zunehmend mehr ahnt als sieht.
Worte ohne Musik sind nicht ihre Sache. Die kommen ihr allenfalls vor wie Fische, die auf dem Trocknen liegen. Immer mehr Noten will sie in den Kopf und in die Hände nehmen. Bald wird das Lesen gar nicht mehr möglich sein. Dann wird sie neu lesen lernen müssen, die Schrift eines Mannes, der ja auch mal Organist war: Louis Braille. Sie weiß von seiner Notenschrift für Blinde. Aber jetzt doch noch nicht! Die Mutter überschüttet die Tochter mit ständig neuen technischen Wundermitteln. Die Pakete stehen zum Teil unausgepackt im Zimmer. Akustische Ausgaben zum Erlernen von Brailles großer Erfindung gehören dazu. Selbst das neue Blutzuckergerät hat akustische Signale. Als ob sie schon blind wäre! Zynisch so was! Und dann noch die eigene Mutter!
Am liebsten hätte die Mutter, dass die Tochter weniger studiert, dafür endlich mit dem Langstocktraining beginnt. Mit 25 Jahren! »Geht es ihr besser, wenn sie mich hilfloser erlebt?«, wütet die Studentin über die Tasten. Diabetische Retinopathie. Die Krankheit ist in ihr. Aber sie ist – Himmel noch mal – nicht die Krankheit! Bekommt sie diesen Gedanken jemals in den Kopf ihrer Mutter?
Schon jetzt spürt sie, wenn Menschen sie anschauen wie |127| eine vollkommen Blinde. Hin und wieder spürt sie diesen Blick auf sich,
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