Und sie wunderten sich sehr
im Arm gehalten. Schließlich ist Nina rausgegangen.
»Aber von Gott hat er Muskeln, Sehne und Bein …« Irgendwann hat sie das mal gelesen.
Benjamin ist schon woanders; er erzählt jetzt von seinem Bruder, der gerade in diesen Stunden zu Hause bei den Eltern im Wohnzimmer sitzt und vielleicht gerade wieder mal am Klavier herumprobiert. Jedes Jahr zu Weihnachten versucht er es neu …
Zwillinge sind er und sein Bruder, aber nicht eineiig. Auf die Welt gekommen, als Feindiagnostik während der Schwangerschaftswochen noch nicht halb so fein war. 39 Jahre ist es her. Ob seine Mutter sich gegen den Zwilling entschieden hätte, wenn sie das schon vor der Geburt gewusst hätte? Das hat Benjamin einmal seine Mutter gefragt, einfach weil er es wissen wollte. Es war kurz nach der Diagnose, dass der erbliche Defekt des Bruders eine Lebenserwartung von noch 10 bis 15 Jahren mit sich bringt. »Wissen kann manchmal so nutzlos sein«, hatte ihm die Mutter geantwortet.
|116| »Wir halten als Familie das Fortschreiten der Krankheit kaum aus – die Stimmungsschwankungen, die Gleichgewichtsstörungen, die entgleitende Kontrolle der Gesichtszüge.
›Wie betrunken‹, flüstern manchmal die Leute auf der Straße hinter seinem Rücken. Meine Mutter erzählt mir das dann oft hoch empört am Telefon. Aber der Gedanke, jemand hätte vor der Geburt die Herztöne meines Zwillingsbruders beendet, ist mir viel unvorstellbarer.«
Benjamin hat das langsam und leise gesagt.
Nina weiß, wie ohnmächtig die Frauen sich oftmals fühlen, wenn sie das Wissen der Diagnosen in den Händen und im Kopf halten. Manche verzweifeln in dieser Ohnmacht, manche gehen aus ihr zu einer ganz anderen Form über. Nina erzählt Benjamin von der Mutter, die erfahren hatte, dass ihr Kind nach der Geburt eine verschwindend geringe Lebenserwartung hat. »Und wenn es eine gemeinsame Stunde ist. Die werden wir haben«, hatte die Mutter damals gesagt.
Als Benjamin und Nina die schwere Hoteltür öffnen, ist klar, dass jetzt kein Raum mehr bleiben wird zum Weiterreden. Auch in den Tagen nach dem 24. gibt es dafür keine zweite Gelegenheit. Benjamin muss zeitiger abreisen. Bevor sein Urlaub vergangen ist, möchte er doch noch einmal bei seiner Familie vorbeischauen. »Vielleicht treffen wir uns ja mal«, schlägt Benjamin vor – und reicht Nina seine Karte. Rechts auf der Visitenkarte schimmert ein kleines goldenes Krönchen.
Nina fragt nicht danach und steckt die Karte ein. Bald wird sie auch im Flugzeug sitzen und dann wieder vor den Wehenschreibern stehen: wie die Magier, von denen der Oberarzt mal sprach und woran er sich wahrscheinlich gar nicht mehr erinnert. Voller Bewunderung und Andacht? Oder doch eher wie Techniker und Analysten – nur einer Fremdsprache mächtig, die keiner weiter im Raum versteht?
Die Magier – mal mit, mal ohne Krone – sie schwirren |117| doch noch durch Ninas Kopf. Auch die drei aus der Krippe in der kleinen Kirche im »Oberdorf«.
Und wenn sie dem Oberarzt, der das von den »Magiern im Stall« erzählt hatte, eine Krone schenken würde, so ein kleines Kinderkrönchen, wie man sie im Spielzeugladen in allen Varianten erhält? Soll er doch, sollen sie doch am besten alle in der Klinik immer dann ihre Kronen aufsetzen, wenn sie wieder mal begeistert und sprachlos vor dem stehen, was das Leben so hervorbringt, was es an neuen Anfängen gibt.
Eigentlich könnte sie Benjamin einmal anrufen. Irgendwann, wenn sie mehr Zeit hat.
Müde Gesellschaft
Die hüteten des Nachts ihre Herde …
Lukas 2,8
Menschen, die nachts arbeiten, haben für mich etwas Besonderes. Ich selbst bin dafür nicht gemacht. Ich werde unruhig, wenn ich nachts keinen Schlaf finde. Und dann bin ich morgens erschöpfter, als ich es in diesen dunklen Tagen ohnehin schon bin. Was machen Nachtarbeiter eigentlich mit ihrer Erschöpfung und Müdigkeit? Wahrscheinlich folgen sie schon längst nicht mehr jedem Impuls und jedem Reiz. So stelle ich mir die Hirten vor. Ihre Tage, vor allem ihre Nächte draußen bestehen aus Zwischenräumen des Wartens und Beobachtens, aus dem absichtslosen Lauschen in die Nacht. Sie lernen sehen, selbst oder gerade in der Dunkelheit. Es entstehen ihnen dabei keineswegs hohe Gedanken oder besonders tiefsinnige Ideen. Sie lassen mehr bleiben, als dass sie es angehen. Ihre Aufgaben sind nicht viele, nicht überfordernd und ziemlich klar umrissen. Es bleibt viel Raum und Gelegenheit, dazwischen miteinander müde zu werden, zu warten. Von fern
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