Und sie wunderten sich sehr
mit den Augen dein gar freundlich tust anblicken. … Nimm mich freundlich in deine Arme und erbarme dich in Gnaden. Auf dein Wort komm ich geladen.« Es klingt wie ein Liebeslied. Aber so hat Philipp Nicolai das vor über 400 Jahren sicher nicht gemeint … Hört sie sich das gerade selbst sagen? Egal, sie ist zu müde, um zu unterscheiden, ob da noch jemand ist – neben ihr; ob sie es ist, die mit sich selber spricht und summt.
Die Müdigkeit hat sie jetzt so gut wie schwerelos gemacht. Sie lächelt: Was für ein herrlich barockes Wort vom »Freudenschein«. Wie oft hat sie es gehört und gesungen? Und doch ist sie ein Zaungast geblieben. Dort am Zaun sieht sie sich stehen, Beobachterin nur des Freudenscheins, den immer die anderen auf ihrer Seite haben. Immer?
»Du bist nicht das Publikum, kein bettelnder Zaungast. Du bist nicht Bettlerin, sondern Königin – nein, nicht die der Nacht, sondern die des Himmels.«
Die Himmelskönigin?
Lächerlich, denkt sich die Musikerin. »Maria auf der Mondsichel« à la Dürer; das belustigt sie fast. Maria, die eben noch in der Höhle zur Geburt hockte, schaukelt königlich auf dem Mond. Ach was!
»Ja, du, eine Himmelskönigin. Königinnen deiner Art sitzen auch mal im Stroh, aber sie passen sich nicht an. Sie bleiben, was sie sind: Beauftragte des Himmels. Du wirst dich selbst nicht los. Schau auf das, was dir der himmlische Auftrag angeboten hat. Sicher können uns die Aufgaben Gottes in den Wahnsinn treiben. Aber wäre das ein Grund, |130| in die Nacht des Selbstmitleids zu versinken? Du bist klüger! Du siehst doch klarer!«
Die Studentin will das so nicht gelten lassen. Was redet dieser Möchtegern-Assistent? Besser, er gibt ihr weiterhin Einsätze, besser, er hilft weiterhin beim Registrieren, ist ihr Auge in den Kirchraum hinein – und den Rest behält er für sich … Welches Rätsel will er lösen, welchen Knoten öffnen? Er gibt sich klug? Gut. Dann soll es diese eine Frage sein: »Warum werden die einen beim Anblick Gottes blind, selbst wenn es nur für kurze Zeit ist? Zum Beispiel dieser Paulus? Und warum können andere dieses Gotteskind, ja, Gott selbst, vor sich sehen, nah an der Krippe niederknien und dennoch das Augenlicht behalten? Oder steht etwas davon in der Geschichte, dass die Hirten die Höhle mit Langstock verlassen, um den Leuten in Bethlehem zu sagen, was sie gesehen haben?« Der Assistent flüstert jetzt wieder etwas, aber sie versteht es nicht.
Unten knallt es. Das kann nur die Kirchentür sein, die gerade ins Schloss krachte. – »Ich muss eingeschlafen sein?« Sie spürt den Abdruck der Hand unangenehm, fast schmerzhaft, auf ihrem Gesicht, und einen leichten Faden Speichel bemerkt sie und wischt ihn irgendwo hin. Einen Moment braucht sie, sich in Zeit und Raum zu orientieren. Hat sie nicht gerade die letzten Takte begleitet? War nicht gerade der »schöne Morgenstern« tatsächlich angebrochen – oder war es das »schöne Morgenlicht?« Davon ist jetzt jedenfalls nichts zu spüren. Nur ein Moment der geschlossenen Augen: ein Augenblick zwischen Ton und Stille, Licht und Dunkelheit hat genau sie gemeint, mit ihr gesprochen – oder gesungen?
Was auch immer es war, durch die Kirchentür nach draußen setzt sie ihre Schritte, als ginge sie nicht allein.
|131| Familienzusammenführung
Das Kind aber wuchs und wurde stark,
voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm.
Lukas 2,40
Lola will Familie. Lola will einfach mal gemeinsam mit einem Bruder, vielleicht auch einer Schwester, mit Eltern, eventuell auch einer Tante und den Großeltern Weihnachten feiern. Mal zusammen an einem Tisch sitzen, an dem alle durcheinanderreden – und das am liebsten nicht nur Heilig Abend. Lola ist zehn Jahre alt und lebt bei ihrer Oma. Eine Familie, wie sie in dem Weihnachtsbuch und auf dem Adventskalender abgebildet ist, die hat sie nicht. Ihre beiden jüngeren Geschwister sind bei Pflegeeltern untergebracht. Besuchskontakte gibt es ab und an.
Oma nennt ihre Enkelin beim vollständigen Namen: Charlotte. Sie ist die Einzige, die das darf. Alle anderen müssen Lola sagen – in der Schule, beim Schwimmen und im Chor. Lolas Oma sieht nicht gerade aus wie eine Oma. Im Gegenteil. Das Allermeiste an der »alleinerziehenden Großmutter«, wie sich Lolas Oma hin und wieder selber nennt, ist schick und elegant. Vielleicht hängt das mit ihrem Beruf am Theater zusammen. Dorthin radelt die Frau Anfang 60 Tag für Tag. Dort findet ihr Berufsleben statt. Eleganz
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