Und sie wunderten sich sehr
Aufsicht über die Hühnchenbeine und die Soßen – dunkel und hell.
Nachdem alles auf die Tische gebracht war, konnte ich mich dazusetzen und mich unterhalten; ja ich habe ernsthaft gedacht, dass man sich einfach so unterhalten kann – weniger mit den Flüchtlingen, wegen der vielen verschiedenen Sprachen, mehr mit drei, vier obdachlosen Männern.
Keiner der Gäste wollte mir glauben, dass ich eigentlich Strafverteidiger bin. Ich hätte locker den einen oder anderen meiner Klienten hier treffen können. Die Gesichter vieler Männer haben den Ausdruck, den ich schon aus meinen Pflichtverteidigungsterminen kenne. Irgendwas zwischen sehr aufgebraucht und verschlagen-abwartend, aber gleichzeitig auch anrührend, fast wie entwaffnet. Es ist das Lied aller Heruntergekommenen in verschiedenen Melodien und Textvarianten, ich bilde mir ein, es zu kennen.
Ich habe gegenüber Obdachlosen noch nie gefremdelt. Ich war also am richtigen Platz. Vom Programmhöhepunkt kann ich das nicht so ganz behaupten: Der kam in Gestalt einer irgendwie kompakten Dame in langen Gewändern. Sie hatte offensichtlich den Auftrag, eine möglichst unverfängliche, das heißt irgendwie allgemeingültige Weihnachtsgeschichte zu erzählen. Schlecht vorgetragene Texte haben mich immer wieder, besonders in der Kirche, gestört, so sehr gestört, dass ich in meiner Theatergruppe selbst gern mal einen Pfarrer spielen wollte. Kann man das nicht alles irgendwie besser machen …?
Belanglose Texte haben keine Wirkung. Da konnte der |121| Pfarrer dann nur noch fragen, ob noch jemand ein Anliegen oder eine Geschichte oder Weihnachtsbegebenheit hat, die er gern mit den anderen teilen möchte. Auf der Säulenseite stand jemand auf und meinte, sein Kumpel sei vor vier Tagen gestorben. Erfroren. »Er wollte sich einfach nicht mehr helfen lassen.« Der Pfarrer schlug vor, eine Schweigeminute einzulegen. Die Flüchtlinge haben nicht so ganz verstanden, was »Schweigeminute« bedeutet – und die Wohnungslosen aus anderen Gründen wahrscheinlich ebenso wenig. Die Kinder hatten ohnehin was anderes vor; und so ist die Schweigeminute in einem ziemlichen Stimmentumult untergegangen.
Und dieser Tumult kam zum Höhepunkt, als die gespendeten Pakete verteilt wurden. Mich hat das alles eigentlich nicht so interessiert, aber es war offensichtlich: Davon etwas zu bekommen war allen, die hierher gekommen waren, sehr wichtig, wenn nicht das Wichtigste. Warum auch nicht? Wenn es an allem fehlt – und das schon seit Jahren, dann drängt mich doch alles nach eine paar Chucks, nach T-Shirts und DVDs. Ich hatte zum ersten Mal so was wie Sympathie für diese Begehrlichkeiten. Mit einem Mal habe ich in Gedanken die Begehrlichkeiten meiner Nichten und Neffen zu Hause mit anderen Augen gesehen. Sie haben jedes Jahr Heiligabend denselben Höhepunkt wie diese Familien hier.
Kurz vor Mitternacht haben wir noch aufgeräumt, Geschirr gestapelt, Berge von Verpackungsmüll vor die Seitentür der Kirche gestellt. (Fast wie Weihnachten bei meiner Familie. Da wird ja dann auch schon mitten in der Nacht alles wieder »ordentlich« geräumt, egal ob’s gemütlich ist oder nicht. Das Packpapier schon auf einen Stapel gelegt, die Kerzenstummel zusammengesammelt, alle Gläser in der Spülmaschine verstaut, kein Schleifenband mehr auf dem Fußboden.)
Dann sind wir über die frische Schneedecke der Nacht losgezogen, meine Nachbarin und ich. Wenn wir nicht so derart erschöpft gewesen wären, hätten wir vielleicht gern |122| genau jetzt einigen Menschen erzählen wollen, was wir erlebt hatten.
Warum sollte ich nächstes Jahr nicht noch einmal den Nachtarbeiter geben? Es war mein bestes Weihnachtsfest.
Die ich noch gestern war
Und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie …
Lukas 2,9
90 mal 40 Zentimeter. Größer ist die Orgelbank nicht. Das ist ihr Platz. Hier verdient sie sich spielend bei Trauungen und Taufen das Geld. Sie legt es an in Noten, Fahrkarten, Mensaessen und Klamotten. Hier kann sie atmen, nachdenken, zu Hause sein. Die neun Quadratmeter im Studentenwohnheim geben ihr nichts von der Ruhe, die sie braucht. Aber diese Orgelbank, auf der Tag für Tag Kirchenmusiker und Organisten mit einer sehr hohen Meinung von der eigenen Kunst üben. Doch die Übungszeiten in der Nacht sind für sie allein reserviert, die Studentin. Die Nacht ist ihr Tag. Dann holt sie sich den Schlüssel für die Kirche aus dem Tresor, verriegelt die große Holztür gleich nach dem Hineinschlüpfen wieder
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