Und stehe auf von den Toten - Roman
vertrieb er die Gedanken an Deborah und stürmte die Treppe hinauf. Jetzt zählte nur noch Vellonis Schwester. Nicht er. Nicht seine Gefühle.
Nach Luft japsend kam er oben an und trommelte ungeduldig mit der Faust gegen die Tür. Kräftiger als er vorgehabt hatte und es schicklich gewesen wäre. Aus dem Flur schlug ihm ein verärgerter Frauenbass entgegen. »Ich komme ja schon. Heilige Jungfrau Maria! Lassen Sie die Tür ganz. Sie hat Ihnen nichts getan.«
Spigolas Wirtschafterin öffnete. Sie musterte ihn, und er sah ihr an, wie sie sich langsam an ihn erinnerte. »Schickt Sie wieder ein Kardinal?«
»Nehmen Sie das ruhig an! Ich muss dringend Monsignore Spigola sprechen.«
»Dringend? Der Teufel hat das Wort erfunden. Erschlagen werde, wer noch einmal dringend sagt.«
Mit missmutigem Gesicht führte sie ihn in das spartanisch eingerichtete Arbeitszimmer, in dem ein Sekretär, ein Armstuhl und ein blankgesessener Holzschemel standen. Dann ließ sie ihn allein.
Hier hatte sich nichts geändert. Auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Bibel. Prospero konnte der Versuchung nicht widerstehen hineinzuschauen. Spigola schien inzwischen melancholisch geworden zu sein, er studierte den
Kohelet. Prospero mochte die Hoffnungslosigkeit des Weisheitsbuches nicht. Während er an die Möglichkeit glaubte, die Welt verbessern zu können, wies der Text nur lakonisch auf die Vergeblichkeit jeden menschlichen Tuns hin. Neugierig, worüber der Alte nachdachte, las er die aufgeschlagene Seite laut:
»Alles hat seine Zeit,
und es gibt einen Zeitpunkt für jede Handlung unter dem Himmel,
eine Zeit zu gebären...«
»... und eine Zeit zu sterben« , vollendete Spigola krächzend den Satz. Prospero hatte ihn nicht kommen hören. Er wandte sich der leicht gebückten Gestalt des Untersuchungsrichters zu. War der im Dienst ergraute Mann damals auch schon so gedrückt unter der Last des Lebens gegangen, oder hatte sich das erst in den letzten Monaten eingestellt? Spigola setzte indes fort:
»Eine Zeit zu pflanzen und eine Zeit, das Gepflanzte auszureißen.
Eine Zeit zu töten und...«
Der Auditor verstummte und lächelte ihn spärlich an. »Lassen wir das. Sentimentalitäten eines alten Mannes. Prospero Lambertini, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt.«
»Es arbeitet tadellos.«
»Sie sind sicher nicht hier, um mit mir Artigkeiten auszutauschen oder sich in die Philosophie des Kohelet zu vertiefen. Womit kann ich dienen?«
»Helfen Sie mir bitte, ein Mädchen zu finden, das gestern verschwunden ist.«
Der Alte schaute ihn erst prüfend an, dann seufzte er. »In den drei tollen Tagen verschwinden laufend Mädchen, die
wenig später wieder auftauchen! Nein, junger Mann, alles, was Sie von mir bekommen können, ist ein Rat: Warten Sie die nächsten beiden Tage ab, bevor Sie in Unruhe verfallen. Sie könnten sich zum Narren machen.«
Was er formulierte, klang überzeugend, routiniert, schon tausendmal verkündet, um Väter und Mütter zu beruhigen, aber die Art, wie er es sagte, so als glaube er selbst nicht mehr daran, beunruhigte den Hilfsauditor. »Und wenn Sie Unrecht haben? Ich kann nicht warten. Sie müssen mir helfen!«
Spigola zog die rechte Braue hoch. »So, muss ich das?«
»Der ehrenwerte Monsignore Alessandro Caprara lässt Sie grüßen. Ich soll Sie daran erinnern, dass Sie ihm einen Gefallen schulden. Heute ist der Tag, ihn einzulösen.«
Der alte Mann blickte bekümmert drein, ließ sich in seinen Lehnstuhl plumpsen und bot Prospero den Schemel an. »Dem kann ich mich nicht verweigern. Caprara hat mir mehr als nur das Leben gerettet.«
»Was meinen Sie?«
»Das Seelenheil, junger Mann«, beschied der Alte ihn knapp. Dann setzte er die undurchdringliche Miene des Untersuchungsrichters auf. »Was können Sie mir über die junge Dame sagen?«
»Sie stammt aus einer ehrbaren Familie.«
»Leichtsinnig?«
»Wie?«
»Ob sie eher sittsam oder leichtsinnig ist.«
Woher sollte Prospero das wissen? Er war Cäcilia nie begegnet. Aber konnte Vellonis Schwester etwas anderes als sittsam sein? Der erfahrene Ermittler registrierte das Zögern des jungen Mannes. »Kennen Sie die junge Dame persönlich?«
»Nein. Sie ist die Schwester eines Freundes, der Bibliothekar in der Vaticana ist. Cäcilia lebt in Orvieto. Die Eltern haben sie für ein paar Tage in die Obhut ihres Bruders gegeben, weil sie so gern Rom sehen wollte.«
»Wie alt ist sie?«
»Siebzehn.«
»Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder
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