Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Vaters Drogen zu schmuggeln. Er hatte alles zerstört, weil er nicht fühlte wie ein Sohn. Und doch liebte Radschiv ihn umso schmerzvoller, wie nur ein Vater seinen Sohn lieben konnte.
Am meisten aber liebte er Pamit, der ihn nie verraten hatte und der ihn niemals verraten würde. Er war unschuldig: Vharmas jüngster Sohn, ihr Vermächtnis. Seinetwegen hatte Radschiv Sharma keine Wahl, er musste sich erpressen und demütigen lassen. Er musstekapitulieren, vor einem schäbigen Vertrag, mit dem er seinen Traum einem Fremden verkaufte, nur damit Pamit nichts geschah.
Radschiv war ein guter Zeuge. Er sah, wie Mirabal mit dem Koffer über den Hof ging, die kleinen Schritte, die ihn aufforderten, sie zurückzurufen, bevor sie am Tor war. Die Worte waren längst zu Asche auf seiner Zunge geworden. Er spürte sie, er konnte sie schmecken, aber er konnte sie nicht sagen.
Er sah die Tränen auf Pamits Wangen, die kleinen feuchten Rinnsale, als er aus der Halle lief und »Mira! Mira!« rufend hinter ihr herrannte, und er sah, wie sie stehen blieb. Er konnte ihren Gesichtsausdruck genau beschreiben, den Kummer, die Verzweiflung, die mit dem Verlust des Paradieses einhergingen. Sie ließ den Koffer fallen und schloss Pamit in ihre Arme. Er war inzwischen fast so groß wie sie, und er klammerte sich an sie. Wie lieb er sie hat, dachte Radschiv, und wie lieb er auch Amir hatte.
Er sah, wie das Taxi von der Straße auf den Hof einbog. Er sah, wie die Beifahrertür aufging und Shak ausstieg und sofort zu Mirabal und Pamit ging, schnell, gar nicht müde, als hätte die Untersuchungshaft ihm nicht das Geringste anhaben können. Pamit ließ Mira los und rannte nun zu seinem großen Bruder, der ihm ruhig die Hand auf den Kopf legte, bis auch Pamit ruhig wurde.
Radschiv sah, wie Pamit sich die Augen mit dem Handrücken wischte und den Rotz wegleckte, der ihm auf die Oberlippe lief. Er sah den jähen Zorn in Shaks Haltung, als er einige Worte mit Mirabal wechselte und sich dann abrupt abwandte, um auf den Wohnwagen zuzugehen. Wenn man ihn gefragt hätte, in einem Verhör, hätte er ausgesagt, dass der Hof jetzt noch leerer wirkte, obwohl all das vor seinen Augen geschah.
Shak riss die Tür auf, stieg in den Wohnwagen und sagte mit diesem zitternden Zorn, der sie alle manchmal überfiel: »Wie kannst du Mira wegschicken? Was tust du, kaum dass ich nicht da bin?! Weißt du nicht, dass sie zur Polizei gehen und alles sagen kann?«
»Das wird sie nicht tun«, sagte Radschiv. »Niemand würde ihr glauben.«
»Der Zollinspektor wird ihr glauben«, sagte Shak.
Radschiv machte sich nicht einmal die Mühe, den Kopf zu schütteln. »Es gibt keine Beweise. Ich trage die Verantwortung für die Familie, und Mirabal wird gehen, das habe ich so entschieden.«
»Du wirst deiner Verantwortung nicht mehr gerecht«, sagte Shak heftig, »weder für die Familie noch für die Firma. Hättest du die Geschäfte besser geführt, wäre es nicht nötig gewesen, auf andere Märkte auszuweichen. Niemand hätte uns schikanieren und erpressen und bestehlen können, niemand wäre aufgetaucht, um uns unsere Firma wegzunehmen, und niemand wäre gestorben. Das ist nicht Verantwortung, sondern Schuld.«
»Wie redest du mit deinem Vater?!«, rief Radschiv scharf, aber Shak fiel ihm ins Wort: »Wie man mit einem schlechten Vater redet! Wie man mit einem Vater redet, der nicht weiß, was gut für ihn und seine Söhne ist! Oder weißt du nicht mehr, was du vor Kurzem zu Pamit gesagt hast?«
»Natürlich weiß ich das noch! Ich habe ihm gesagt, dass wir eine Familie sind und dass wir füreinander sterben, wenn es sein muss.«
»Nein, früher – vorher! Als er sich heimlich den Film über den Sikh-Aufstand angeschaut hatte und dich fragte, ob Sikhs Menschen umbringen dürfen. Du darfst niemals für Geld töten , hast du gesagt, weißt du noch? Du darfst niemals für Geld töten oder für eine Uhr. Du darfst für Geld kämpfen, aber wenn du tötest, muss es aus Leidenschaft oder für deinen Glauben sein. Bloß nimm nie jemandem das Leben, wenn dein eigenes dadurch nicht besser wird. Das hast du gesagt.«
»Es stimmt ja auch.«
Shak ballte die Faust und schlug damit gegen den Türrahmen, so plötzlich, als wäre ein Blitz in ihn gefahren. »Du hast es zu einem dreizehnjährigen Jungen gesagt, der geistig zurückgeblieben ist. Nennst du das Verantwortung?«
»Er ist nicht geistig zurückgeblieben«, widersprach Radschiv. »Er ist nur – er ist nicht geistig
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