Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
liebsten aus dem Umschlag nehmen und Ihrem Gott so an die Stirn pressen wie damals dem Entführer. Wenn ich könnte, würde ich es tun, um zu sehen, wie er es mit der Angst kriegt. Wenn ich könnte, würde ich ihm eine Höllenangst einjagen, weil er mir meine Frau wegnimmt!«
Er wandte sich ab und sah auf die Wiesen hinaus, und als er sich wieder umdrehte, war Ten Damme ins Haus zurückgegangen, und er ging ebenfalls zurück. Im Korridor kam ihm dieselbe Pflegerin entgegen, der er vor einer Stunde begegnet war. Jetzt erkannte sie ihn und sagte: »Es tut mir leid.«
»Ist sie tot?«, fragte er.
»Nein. Ihr Zustand ist unverändert.«
Er trat in das Zimmer und setzte sich wieder an Simones Bett. Es wurde allmählich dunkel, aber er machte kein Licht. Er blieb bei ihr, bis er merkte, dass sie jetzt wirklich starb. Sie hatte die Augen nicht noch einmal geöffnet, und er hatte auch nicht mit ihr geredet, um sie nicht zu stören bei dem, was sie vorhatte. Es ist gar nicht Gott , dachte er, sie tut es, weil sie es will. Er sah, wie ihr Gesicht unter der Sauerstoffmaske sich zusammenzog und dann glatt wurde. Er hielt ihre Hand, und er spürte, wie sie ihn losließ. Das war alles.
Er nahm ihr die Maske ab. Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Als er sich wieder aufrichtete, zitterte er. Die Haut schien sich kalt und heftig um seinen Körper zusammenzuziehen; sein Herz hörte auf zu schlagen. Seine Brust war plötzlich so leer, dass ihm das Blut aus dem Kopf stürzte. Er rang nach Atem. Dann setzte sein Herzschlag wieder ein, jetzt rasend schnell, ein Trommeln, das ihm Angst einjagte. Sim , dachte er. Auf Wiedersehen, Sim.
Jemand betrat das Zimmer, sah ihn und ging leise wieder. Etwas später kam jemand anderer, aber als Van Leeuwen »Raus!« sagte, ging auch der. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Sim.
Er wollte gehen, er wusste nur nicht, wie er das schaffen sollte. Er wollte bleiben und wusste, dass es unmöglich war. Alles war unmöglich geworden.
28
In der Nacht hatte es zu regnen begonnen – kein dichter Regen, mehr ein warmes Nieseln, das die Hauswände dunkler färbte und einen feuchten Schimmer auf die Pflastersteine legte.
Van Leeuwen ging eine schlecht beleuchtete Straße hinauf und um eine Ecke in die nächste Straße, über einen Platz und wieder in eine Straße, die er alle früher einmal gekannt hatte, vor langer Zeit, und die ihm jetzt fremd waren. Er hielt den Umschlag mit der Luger unter die linke Achsel geklemmt. Nach einiger Zeit warf er den Umschlag weg und steckte die Pistole in die Hosentasche. Der leichte Regen hörte kurz vor Tagesanbruch auf, ohne dass er darauf achtete. Die Nässe trocknete auf seinem erstarrten Gesicht. Das Geräusch seiner Schritte veränderte sich, und die Stille ringsum wurde dichter.
Er versuchte, nicht nachzudenken, aber fortwährend fielen ihm Zahlen ein, dreiundvierzig Jahre und dann neunundzwanzig Jahre und die Monate und die Wochen und die Tage. Das war sein Leben bis zu diesem Tag, alles davor zählte nicht. Dreiundvierzig Jahre hatte er Sim geliebt, und neunundzwanzig Jahre waren sie verheiratet gewesen. Auch die Monate, Wochen und Tage bereiteten ihm keine Schwierigkeiten, denn im Kopfrechnen war er immer gut gewesen. Er ging weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Sein Haar wurde nass, und sein Mantel sog die Feuchtigkeit auf. An seinen Schuhen klebten Blätter und Lehm, und wie er selbst waren auch die schwerer als sonst.
Um diese Stunde gab es noch nicht viel Verkehr; nur wenigeFußgänger waren zu sehen. Ein früher Linienbus kroch die Rozengracht hinauf und schob mit seinen Scheinwerfern den Rest der Nacht vor sich her. Ein Priester auf einem Fahrrad bog um die Ecke zur Prinsengracht. Das erste Licht der aufgehenden Sonne färbte die Kuppel der Westerkerk blassrosa; gestochen scharf hob sie sich von dem grauen Metallhimmel ab. Am Kai standen die Ulmen mit feucht glänzenden Blättern im klaren, windstillen Morgen.
Die Luft roch frisch und kühl und salzig, und Van Leeuwen dachte, dass die Luft so nicht riechen durfte an einem Morgen wie diesem, aber es war gut, dass sie es tat.
Du musst einen Schlussstrich ziehen, dachte er. Es ist unmöglich, aber du musst es tun. Einen Schlussstrich unter die dreiundvierzig Jahre und die neunundzwanzig Jahre und die Monate und die Wochen und die Tage. Aber er sah sie neben sich gehen; er sah, wie sie ihn küsste, und er sah, wie sie sich liebten, wie sie tranken und aßen und redeten und
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