Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
sein Los teilen musste. Jetzt gab es nur noch den alltäglichen Lebensschmerz, mit dem er fertig werden würde. Er brauchte sich um niemanden mehr zu sorgen und vor niemandem mehr Angst zu haben, weder vor Menschen noch vor unerwarteten Zufällen. Das Herz war ihm schon gebrochen worden, und er war darüber weggekommen, so wie er anderen wehgetan hatte und darüber weggekommen war. Er wusste, dass er viel ertragen konnte: Niederlagen, Misserfolge, Scham. All das war ihm widerfahren, und er war damit fertig geworden. Er glaubte nicht, dass er Pech anzog oder für Tragödien geschaffen war, denn er hatte ja Liebe und sogar Glück erlebt. Er gehörte nicht zu denen, die immer nur mit dem Schlimmsten rechneten, aber er sagte sich auch nicht, dass schon alles gut werden würde.
Wovor fürchtest du dich dann? Warum sitzt du da wie gelähmt und trinkst? Warum hast du Angst, vom Tisch aufzustehen und aus der Küche zu gehen? Es gibt einen Grund: Ohne Sim bist du dir deiner nicht mehr sicher.
Während er darüber nachdachte, leerte er auch die Flasche Whisky. Du bist dir deiner nicht mehr sicher, und vielleicht wirst du es nie wieder sein. Er stand auf und schaltete die Leuchtstoffröhre über der Spüle ein. Das Licht war nicht sehr hell, aber es blendete ihn trotzdem. Er holte ein halbes Ciabatta aus dem Brotkorb und Butter, eine Tomate und abgepackten Mozzarella aus dem Kühlschrank. Er schnitt das Brot der Länge nach durch, bestrich beide Hälften mit Butter und belegte sie mit Mozzarella. Dann schnitt er die Tomate in dünne Scheiben und legte sie auf den Käse. Er nahm ein Holzbrettchen als Unterlage und stellte ein Salzfässchen auf den Tisch.
Er setzte sich und betrachtete das Essen. Er sah sich in der Küche um. Im schwachen Schein der Leuchtstoffröhre betrachtete er sie wie mit neuen Augen: die Wände, die dringend eines Anstrichs bedurften, die Wachstuchvorhänge, die halb vertrocknete Topfpflanze auf der Fensterbank hinter den nicht ganz zugezogenen Vorhängen.
Er griff nach dem Brot, hielt es in der Hand und legte es dann wieder zurück, ohne hineingebissen zu haben.
Du bist dir deiner nicht mehr sicher, und vielleicht wirst du es nie wieder sein.
Er stand auf, um die Topfpflanze zu gießen, ging stattdessen aber ins Schlafzimmer. Er schaltete die Nachttischlampe ein und setzte sich auf die Bettkante. Er betrachtete das Foto von Simone. Sie lächelte; es war ein Foto aus den guten Jahren. Dann zog er die Nachttischschublade auf, nahm die Luger heraus, entsicherte sie, presste sich die Mündung gegen die Schläfe und drückte ab.
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Radschiv Singh Sharma war ein guter Zeuge. Er sah alles. Er sah jede Einzelheit, und er konnte immer genau beschreiben, was er beobachtet hatte. Er stand am Fenster seines Wohnwagens, undgerade wurde er Zeuge, wie seine Welt unterging. Alles, was er in all den Jahren aufgebaut hatte, brach zusammen, und er konnte nichts anderes tun, als zuzusehen. Deswegen war er ein guter Zeuge.
Es gab drei Menschen, die er mehr liebte als sich selbst, und zwei dieser Menschen hatten ihn verraten: Mirabal, sein Herzens-licht, und Shak, sein erstgeborener Sohn. Auch der Palast der 1000 Gewürze, sein Lebenswerk, für das seine Frau Vharma gestorben war, ging vor seinen Augen unter. Aber das war nur ein Traum gewesen, und wenn es diesen Traum nicht mehr gab, konnte er einen neuen träumen.
Der Hof vor der Lagerhalle lag verlassen im Licht des späten Nachmittags. Keine Sattelschlepper brachten neue Ware; keine geschäftigen Arbeiter luden sie ab; keine Lieferwagen rollten durch das Tor, um Kisten, Tonnen oder Säcke zu Restaurants, Feinkostläden und Großmärkten zu bringen. Radschiv Sharma stand hinter der Chintzgardine am Fenster seines Wohnwagens und sah, dass der Hof leer war, und Trauer umgab ihn wie eine zweite Haut.
Es half nicht, dass Mirabal ihren Koffer gepackt hatte und nun bereit war, zu gehen. Es half nicht, weil er sie immer noch liebte. Sie hatte sich gegen die Familie gestellt, gegen seinen erstgeborenen Sohn, aber trotzdem liebte er sie. Er konnte es ihr nie wieder sagen. Er konnte sie nie wieder berühren. Deswegen hatte sie eingesehen, dass sie gehen musste, obwohl auch sie ihn liebte.
Es half nicht, dass die Polizei Shak wieder freigelassen hatte. Sie hatten ihn so lange festgehalten, wie sie konnten, aber dann hatten sie doch nicht Anklage erhoben, weil die Beweise nicht ausreichten. Es half nichts, weil Shak das Geschäft benutzt hatte, um hinter dem Rücken seines
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