Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
mich ansah. Es war ganz wund von enttäuschter Liebe. Er saß da und sah mich an, aber er sah gar nicht mich, er sah sein Leben, seine Familie und wie alles vernichtet zu werden drohte. Wie sein eigener Sohn dem Bösen die Tür geöffnet hatte. Er sah, dass dieser Mann vom Zoll recht gehabt hatte. Und dann – das war am schlimmsten – erkannte er, dass Shak vielleicht nie auf die Idee gekommen wäre, Opium zu schmuggeln, wenn er selbst ihn nicht mit dem Moschus auf den Gedanken gebracht hätte. Dass er selbst die Zukunft zerstört hatte, wegen der er mit seiner Familie in dieses Land gekommen war.«
Unmerklich hatte sie zu weinen begonnen; ihre Augen blieben trocken, nur zwei glänzende Fäden zeigten sich unter ihrer Nase. »Aber ich wusste, er würde trotzdem alles tun, um seinen Sohn zu beschützen, jeden seiner Söhne. Er war so traurig über Amirs Tod, so traurig über Shaks Betrug. Aber vor allem war er immer noch Vater. Er hatte seine Frau verloren, auf keinen Fall wollte er auch noch seinen Erstgeborenen verlieren. Solange sie alle zusammenhielten, war Shak sicher. Wenn sie sich trennten, wenn Shak weglief, waren sie alle verloren ... Das ist alles. Mehr weiß ich nicht. Nur, dass Radschiv niemanden ermordet hat, weder Amir noch dessen Freundin.«
»Sie sind seine Geliebte«, sagte Hoofdinspecteur Gallo. »Woher wissen wir, dass Sie die Wahrheit sagen? Woher wissen wir, dass Sie nicht Shak belasten, um den Mann, den Sie lieben, zu schützen?«
»Weil er mir das nie verzeihen würde«, sagte Mira schlicht. »Er würde mich verstoßen und nie wieder an mich denken.«
Das könnte sein, dachte der Commissaris, ich würde es so machen. Er stellte fest, dass das Licht der Tischlampe sie nicht mehr trennte, sondern im Gegenteil jeden Abstand zwischen ihnen aufhob. Sie sagt die Wahrheit, dachte er, so groß war die plötzliche Nähe. Aber es gab dort in ihr noch eine andere Wahrheit, die sie nicht sagte. Vielleicht weil sie gar nicht wusste, dass diese andere Wahrheit da war und etwas an ihr verändert hatte. Vielleicht ahnte sie es nur.
Er sagte: »Nur eine Frage noch: Wie lange kennen Sie Mijnheer Sharma schon? Wann wurden Sie seine Geliebte?«
»Vor vier Jahren, im August.«
»Wie hat Shak auf diese neue Situation reagiert?«, fragte der Commissaris. »Und Pamit? Wie haben seine Söhne sich Ihnen gegenüber verhalten?«
»Pamit hat sich schnell an mich gewöhnt«, sagte Mira. »Er ist wie ein junger Hund, der schnell Zutrauen fasst. Wie Shak zu mir steht, haben Sie ja selbst gesehen.«
»Und dann wiederholte sich die ganze Sache mit Amir«, sagte Gallo. »Er hat wahrscheinlich furchtbare Angst gehabt, dass nach einer neuen Mutter auch noch ein neuer Bruder in die Familie aufgenommen wird. Besonders wo er jederzeit damit rechnen musste, dass sein Vater irgendwann von seinen Drogengeschäften erfährt. Dass er ihn die ganze Zeit hintergangen und auf diese Weise die Existenz der Firma aufs Spiel gesetzt hat und dass ihnen allen Gefängnis und sofort anschließend die Ausweisung drohte. Durch die Razzia und den Umstand, dass Amir ein Informant des Zolls war, rückte dieser Moment plötzlich ganz nah. Es gab im Grunde wirklich nur die eine Möglichkeit. Shak hatte ein Motiv, Amir Singh zu töten. Er wollte die Ware zurückholen, ohne dass sein Vater je davon erfuhr. Er stieg in Papas roten Mercedes und fing an, nach Amir zu suchen.
Er verfolgte ihn, und am Ende fand er ihn auch ... Der Wagen ist gar nicht gestohlen worden, oder?«
Mira schüttelte den Kopf. »Damals noch nicht. Aber danach ist er wirklich verschwunden, am nächsten Morgen war er weg. Möchten Sie sonst noch etwas wissen?«
»Ihre Schuhgröße«, sagte Gallo. »Ihre und die von Shak und Radschiv.«
Der Commissaris stand auf und zog die Jalousie hoch. Sonnenschein schlug in den Raum. Mirabal blinzelte, als zeigte das Tageslicht ihr eine neue, fremde Wirklichkeit, in der sie sich erst zurechtfinden musste. Das ist die Wahrheit, dachte Van Leeuwen; die Wahrheit am Ende eines langen Verhörs lässt alles in einem neuen Licht erscheinen.
21
Sie gingen zu viert über den Markt in der Albert Cuypstraat. Es war später Nachmittag, und der Commissaris und Hoofdinspecteur Gallo gingen langsam, die Augen auf die Gesichter der Passanten in der Gasse zwischen den Buden gerichtet. Sie schoben sich in die schmalen Durchgänge zu den Häusern dahinter, streiften aufgehängte Teppiche, Ledertaschen, Gürtel, Schaffellmäntel und bunt bestickte Kleider.
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