Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
AmirSinghs Leiche gefunden haben. Und ein Staatsanwalt wäre auch nicht schlecht.«
Das war der Moment, in dem Radschiv Sharma losrannte. Er rannte mit kurzen, unsicheren Schritten, die Hände in den Handschellen vor die Brust gehoben. Dabei schlug er Haken wie ein Fußballspieler, der einen Ball an der Verteidigung vorbei ins gegnerische Tor dribbelt. Er rannte und versuchte, den Touristen und Verkäufern und Straßenkünstlern in der Gasse zwischen den Ständen auszuweichen, und jedes Mal, wenn jemand nicht schnell genug beiseitesprang, schlug er einen neuen Haken auf dem glitschigen Pflaster. Als er sah, dass Julika und der uniformierte Polizist ihm nachliefen, zwängte er sich zwischen zwei eng stehenden Buden hindurch und rannte hinter den Ständen weiter, aber nach ein paar Metern rutschte ihm der Turban vom Kopf und rollte sich auf seinen Schultern zu einem safrangelben Tuch aus, das langsam seinen Rücken hinunterrutschte, und eins der Enden geriet ihm zwischen die Beine. Erst sah es so aus, als störte es ihn nicht beim Laufen, doch dann verfing sich sein linker Fuß in dem Tuch, und er stolperte und stürzte und schlug mit der Stirn auf die Deichsel eines Gemüsewagens. Danach lag er da mit blutender Stirn und bewegte sich nicht mehr, bis der Commissaris bei ihm war und sagte: »Das überzeugt mich auch nicht, Mijnheer Sharma.«
Sharma öffnete die Augen. »Helfen Sie mir auf, bitte«, sagte er und streckte Van Leeuwen die gefesselten Hände entgegen. Als er stand, wischte er sich mit dem Anzugärmel das Blut von der Stirn. »Ich laufe nicht schlecht für mein Alter, oder?«, fragte er, während seine Brust sich hob und senkte wie ein Blasebalg. »So bin ich damals hinter Amir Singh hergerannt, mit dem Messer in der Hand ...«
»Natürlich«, sagte der Commissaris und führte den alten Inder hinter den Marktbuden zu dem in einer Seitenstraße wartenden Dienstwagen.
»Wo ist Mirabal jetzt?«, fragte Sharma besorgt, als sie im Wagen saßen und auf dem Amsteldijk in Richtung Jodenbuurg fuhren. Er hockte auf dem Rücksitz neben Brigadier Tambur, die mit denHandschellen gefesselten Hände im Schoß zu Fäusten geballt. Sein Turbantuch lag nachlässig zusammengefaltet zwischen seinen Oberschenkeln.
»Wir haben sie zurückgebracht«, antwortete Gallo, ohne sich umzudrehen. »Zu Sharma & Sons . Einer Ihrer Angestellten hat ihr berichtet, dass Sie und Ihr Sohn auf dem Albert Cuypmarkt sind, um ausstehende Rechnungsbeträge von einigen Ihrer Kleinabnehmer einzutreiben.«
»Haben Sie sonst noch etwas getan, wozu Sie kein Recht hatten?«, wollte Sharma wissen.
»Wir hätten dem Rauschgiftdezernat nahelegen können, das Lager nach dem Opium zu durchsuchen«, sagte Julika. »Aber natürlich haben Sie das längst verschwinden lassen. Deswegen haben wir uns darauf beschränkt, sämtliche Turnschuhe zu beschlagnahmen, die wir finden konnten: Ihre, die von Ihrer Geliebten und die von Ihren Söhnen. Größe 38, 42, 40, alles vertreten.«
»Ich habe gar keine Turnschuhe«, sagte Sharma.
Und an den anderen werden wir kein Blut finden, dachte Van Leeuwen.
Sharma sah aus dem Fenster und runzelte die Stirn, als der Wagen den Stadhouderskade kreuzte und auch an der Saphartistraat nicht nach links abbog. »Wo bringen Sie mich hin?«, fragte er. »Das ist nicht der Weg ins Polizeipräsidium!«
»Wir bringen Sie nicht ins Präsidium«, sagte der Commissaris. »Wohin dann? Ah, Sie bringen mich ins Gefängnis.«
»Wir bringen Sie auch nicht ins Gefängnis.«
»Sie bringen mich nicht ins Gefängnis? Warum nicht?«
Gallo sagte: »Bei uns kommt man nicht so einfach ins Gefängnis. Zuerst kommt man in eine Arrestzelle, entweder in der Elandsgracht oder in Amsterdam West, manchmal auch in Südost, je nachdem, wo eine frei ist. Dort wird man befragt, und wenn nach der Befragung die Beweislage ausreicht, ordnet ein Richter Untersuchungshaft an.«
»Und wenn nicht?«, fragte Sharma.
»Dann«, sagte Van Leeuwen, »wird der Verdächtige wieder auffreien Fuß gesetzt, bis wir mehr gegen ihn in der Hand haben oder bis die Ermittlungen zu einem anderen Verdächtigen führen.« »Aber wenn der Verdächtige alles gesteht?«
Brigadier Tambur sagte: »Wir überprüfen, ob seine Angaben der Wahrheit entsprechen.«
»Ich sage die Wahrheit«, bekräftigte Sharma, den Blick weiter aus dem Fenster gerichtet. Aber er schien weder den Feierabendverkehr wahrzunehmen noch das Abendrot über den Dächern und auch nicht die grün gestrichenen
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