Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
Vom Netzwerk:
natürlich auch das andere, das Höllische.«
    Van Leeuwen betrachtete das dreidimensionale farbige Gebilde auf dem Monitor.
    »Das Gehirn besteht aus Zellen, die sich, anders als beispielsweise die der Haut, nicht regenerieren«, fuhr der Professor fort. »Tag für Tag sterben davon etwa zehntausend. Wenn Sie glauben, das sei viel, dann irren Sie sich – bei etwa drei Billionen Zellen macht diese Zahl selbst während eines langen Lebens drei Prozent der gesamten Menge aus. Diese drei Billionen verteilen sich auf Vorderhirn, Mittelhirn und Hinterhirn, von denen uns hier aber nur der vordere Bereich interessiert, denn das ist der Sitz des Erinnerungsvermögens. Dort entstehen Gefühle wie Liebe oder Hass oder Angst; von dort senden angeborene oder erlernte Triebe ihre Impulse. Und da beginnt auch die Alzheimer’sche Krankheit.«
    Es war das erste Mal, dass Van Leeuwen diesen Begriff im Zusammenhang mit seiner Frau gehört hatte, und jetzt wusste er, dass seine Angst berechtigt gewesen war.
    »Was bedeuten die Farben ?«, fragte er.
    Terlinden sagte: »Wir haben eine Glukoselösung in die Blutbahnen Ihrer Frau gespritzt, um die Gehirnströme und die Konzentration chemischer Verbindungen messen zu können. Nervenzellen nehmen Zucker besonders schnell auf. Sehen Sie, einige Zellen tankenmehr Glukose als andere, das sind die aktiven – die dunkel roten da. Die passiven bleiben blass, das helle Grün hier, das bisschen Gelb oder Rosa. Salopp gesprochen, sind das die Wege der Erinnerung, die Sie da sehen, und Dunkelrot tritt dann auf, wenn das Gehirn eine Information erhält, die es sich wahrscheinlich merken wird, weil es sie für wichtig hält.«
    »Da ist nicht sehr viel Dunkelrot«, sagte Van Leeuwen. Genau genommen erlosch es zusehends: Es versickerte wie ein Wassertropfen in einer grauen Wüste. Er konnte seinen Blick nicht von dem Monitor lösen. So also sah es im Kopf seiner Frau aus, das war ihre innere Welt, deren Vielfalt er immer in ehrfürchtigem, vergnüglichem Staunen bewundert hatte. Er starrte auf die Landkarte eines unbekannten Kontinents, auf merkwürdig verschlungene Flüsse, undurchdringliche Wälder, schroffe Berge und eintönige Wüsten. Städte in Ruinen. Gab es menschliches Leben dort drin, irgendein Leben, oder war es erloschen wie das Dunkelrot der Gehirnzellen ?
    Dort, dachte er, ist meine Frau sich selbst verloren gegangen, sich und mir. In dem Dunkel, in das sie gereist ist, ohne es zu wollen. Verschlungen vom versteinerten Dschungel am Ufer dieser ausgetrockneten Flüsse.
    »Wie kann so was passieren ?«, fragte er. »Wie kann so viel verloren gehen ?«
    »Wollen Sie die medizinische Erklärung oder die verständliche ?«, fragte Terlinden.
    »Beide.«
    »Genau hier«, sagte Terlinden und berührte mit dem Zeigefinger Simones Vorderhirn auf dem Monitor, »bilden sich aus heiterem Himmel Ablagerungen, die sich nicht mehr auflösen – außerhalb der Nervenzellen. Wir nennen sie amyloide Plaques. Aluminiumsilikat. Proteine, Eiweiß, das nicht mehr abtransportiert wird. Nach und nach befallen die Eiweißbrocken das ganze Großhirn, sie ersticken alle Nervenzellen in ihrer Umgebung. Eine besetzte Zelle zieht die nächste mit sich in den Untergang, immer mehr, immer schneller und unaufhaltsam. Und, wie ich ja schon sagte, Gehirnzellen regenerieren sich nicht. Mit der Zeit werden alle Wege, die bei gesundenMenschen dem Transport und Austausch von Informationen dienen, immer unpassierbarer und schließlich ganz verstopft.«
    Van Leeuwen schwieg. Er versuchte, sich diese kleinen amyloiden Plaques vorzustellen, die das Gehirn seiner Frau zerstörten. Mikroskopisch kleine Mörder, geduldige Würger, sicher vor seinem Zugriff, behütet von ihrem Kopf.
    »Ihr Leben spielt verrückt«, erklärte Terlinden, »weil Sie keine Koordinaten mehr haben, nach denen Sie sich richten können, keinen Kompass. Sie können Ihre Wahrnehmungen nicht mehr einordnen und vergleichen, weil Sie nicht mehr zu dem Punkt vordringen, wo Sie Ihre Erfahrungen gespeichert haben.«
    »Meine Frau hat also praktisch keine Vergangenheit mehr«, sagte Van Leeuwen.
    »Keine, die sie selbst noch kennt«, sagte der Professor.
    »Und dabei hatte ich immer ein Faible für Frauen mit Vergangenheit«, sagte der Commissaris.
    Terlinden sah ihn verblüfft an – ein befremdlicher Scherz , schien seine Miene zu sagen, eines höchst befremdlichen Menschen. Er drückte auf einen Knopf; der Monitor erlosch. »Stellen Sie sich eine Landschaft vor,

Weitere Kostenlose Bücher