Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
die Stück für Stück von einem undurchdringlichen Nebel verschlungen wird. Erst nehmen Sie den Nebel kaum wahr, doch bald können Sie nur noch Schemen erkennen, halbwegs vertraute Umrisse, und schließlich ist alles um Sie herum darin verschwunden, und Sie wissen nicht einmal mehr, dass es diese Landschaft innerhalb des Nebels überhaupt gibt.«
»Das möchte ich mir lieber nicht vorstellen«, sagte Van Leeuwen. Bei seiner Tätigkeit war es umgekehrt: Ganz am Anfang war er von Nebel umgeben, und dann arbeitete er sich langsam zu den Schemen und Umrissen vor, um die Welt zu entdecken, von der er genau wusste, dass es sie gab – die andere, fremde Welt, in der ein Opfer auf seinen Mörder gestoßen war.
»Wer hat noch mal gesagt, die Vergangenheit sei immer anders und immer ein fremdes Land ?«, fragte Terlinden.
Eine halbe Stunde später saßen sie wieder zu dritt in seinem Büro, und Van Leeuwen schöpfte neuen Mut aus dem strahlenden Lächeln,mit dem Simone bei ihrem Wiedersehen auf seinen Anblick reagiert hatte. Geduldig und freundlich – viel geduldiger, viel freundlicher als früher – saß sie da vor dem Schreibtisch des Professors, und sie war so sauber wie selten in den letzten Monaten. Sie glänzte geradezu.
»So.« Beiläufig schob Terlinden seinen Notizblock ein Stück auf sie zu. »Wissen Sie noch, was für Gegenstände ich Ihnen vor zwei Tagen gezeigt habe, Simone ?«
»Was für Gegenstände ?«, fragte sie.
»Ein Notizbuch vielleicht ?«
»Notizbuch ?« Ihre Stimme, obschon leise, klang heller als sonst, fast unschuldig. In ihrem Haar schimmerten silberne Strähnen, wenn sie den Kopf bewegte.
Terlinden zog das Notizbuch wieder an sich. »Wie lange sind Sie schon hier, Simone ?«
»Lange.«
»Was haben Sie heute Mittag zu essen bekommen ?«
» Spinacio «, sagte Simone.
»Spinat«, erklärte Van Leeuwen.
»Es gab Kalbsragout und Butterkartoffeln«, sagte der Professor, »keinen Spinat.« Er stand auf, trat um den Schreibtisch herum und hielt Simone einen Bleistift an die Lippen. Statt zu protestieren, begann sie daran zu saugen. »Absturz in die Kindheit«, erklärte Terlinden, »samt dazugehörigem Saugverhalten ist typisch bei Alzheimer.«
Der Commissaris erkannte, dass er eine trügerische Hoffnung genährt hatte. »Das reicht jetzt«, sagte er mit der geballten Autorität von Ehemann und Polizeioffizier in einem, denn er ertrug dieses Verhör nicht eine Sekunde länger.
»Wir haben Ihre Frau auf Herz und Nieren untersucht«, erklärte Terlinden, nachdem Van Leeuwen Simone wieder ins Vorzimmer geführt hatte. »Wir haben umfangreiche Bluttests durchgeführt, ihr Sprachvermögen überprüft, ihre Reflexe getestet und ihre Links-Rechts-Orientierung auf die Probe gestellt. An der Diagnose besteht leider kein Zweifel mehr.«
»Kann sie sich wirklich an gar nichts mehr erinnern ?«, fragte Van Leeuwen, »nicht mal an die schönen Dinge ?«
»Das Gedächtnis unterscheidet nicht zwischen schön und hässlich«, sagte Terlinden. »Es speichert nur, und gelegentlich bereinigt es die Archive. Wenn Sie etwas suchen, die Erinnerung an einen Namen, an ein Ereignis, dann sind das schlicht die Moleküle in den Nervenfasern Ihres Gehirns, die blitzschnell Milliarden Zellen nach der benötigten Information abklappern und schließlich dort die Verbindung herstellen, wo sie die passende Synapse gefunden haben. Das ist ein Vorgang, der in jedem Gehirn gleich abläuft. Allerdings finden sie natürlich bei jedem etwas anderes, und das ist dann die Erinnerung, die nur Ihnen gehört.«
»Davon habe ich schon zu viele«, sagte Van Leeuwen.
»Und Ihre Frau hat kaum noch welche.« Terlinden schaltete die Lampe auf seinem Schreibtisch an, denn es war dunkel geworden. »Sie können versuchen, die eine oder andere zu wecken, und vielleicht lichtet sich der Nebel für einen Moment, und da liegt eine Erinnerung, die einmal als schön gespeichert worden ist. Sie können Lieder spielen, die sie gemeinsam gehört haben. Sie können auch verreisen, an Orte, wo Sie zusammen glücklich waren. Aber viel Zeit bleibt Ihnen nicht mehr.«
Van Leeuwen schwieg. Wenn ich aufmerksamer gewesen wäre, dachte er, wenn ich die Veränderungen rechtzeitig bemerkt hätte –
»Ich weiß, was Sie jetzt denken«, sagte Terlinden. »Aber auch wenn Sie früher zu mir gekommen wären, hätte das nichts geändert. Bei Alzheimer kommt ein Arzt immer zu spät, so wie Sie ja auch erst an den Tatort gerufen werden, wenn der Mord schon
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