Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
sie sich ausruhen konnten, ohne sofort wieder verscheucht zu werden. Es waren nur zwei, aber da draußen gab es tausende von ihnen – Zugvögel, auf der Suche nach Liebe, die sie Respekt nannten, weil das cool klang, nicht so sentimental. Deniz und Robbie und Tic und Kevin, der tot war. Tausende und abertausende, wund von den Schmerzen, die ihre ziellose Sehnsucht ihnen zufügte.
Für Deniz kannst du als Polizist nichts tun, dachte der Commissaris, jetzt nicht und vielleicht nie mehr. Der Junge ist tapfer – er kämpft mit sich, mit dem Teil, der traurig, schwach und einsam ist, aber er hat den Kampf schon fast verloren. Noch gibt er nicht auf, und vielleicht hat er zwischendurch den einen oder anderen guten Tag, an dem er einen Sieg erringt. Bloß werden diese Tage immer seltener und die Siege immer kleiner, weil er gar nicht mehr wirklich gewinnen will.
Simone lag auf der Seite, das Gesicht abgewandt. Schlank undverletzlich bot sich ihr Nacken dem Licht der Nachttischlampe dar. Die Decke war bis zu den Schulterblättern heruntergerutscht. Van Leeuwen zog sie wieder hoch, damit seine Frau keinen steifen Hals bekam. Sie hatte immer mehr verlangt als Respekt und nie weniger bekommen als Liebe.
»Ich will nicht, dass wir Deniz und seine Freundin in ein Heim stecken«, sagte Brigadier Tambur am nächsten Morgen, als sie auf den Parkplatz des Universitätskrankenhauses fuhren. »Ich will nicht, dass sie in Abbruchhäusern verwildern, und ich will sie nicht am Bahnhof herumlungern sehen, aber ein Heim ist nur ein Aufschub. Am Ende fliegen sie doch wieder raus, landen wieder auf der Straße und dann im Jugendknast. Ich will sie aus der Reichweite der Polizei haben, vor allem der Drogenfahndung und der Sitte. Ich will, dass sie die Liebe kriegen, die sie verdienen. Ich will jemanden finden, der ihnen diese Liebe geben kann.«
»Wer weiß schon vorher, ob er so viel übrig hat«, sagte Van Leeuwen.
Julika schüttelte den Kopf. Die roten Spitzen ihrer Stachelfrisur leuchteten im Sonnenschein wie kleine zornige Korallen. »Niemand weiß das vorher. Man kann es nur wollen – wollen und dann versuchen. Ich spreche zuerst mit den Verwandten, den Erziehungsberechtigten, mit allen. Da bin ich fanatisch. Ich glaube an Familienbande. Keine Sorge, ich habe keinen Mutter-Teresa-Komplex, außer dass ich helfen will, wo ich kann. Ich –«
»Ist ja gut«, sagte Van Leeuwen. »Tun Sie, was Sie für richtig halten, Mevrouw. Aber was Sie auch tun, behalten Sie ihn im Auge. Der Mörder folgt ihm.«
Er öffnete die Beifahrertür und stieg aus. In der Nacht hatte es
aufgehört zu regnen, aber der Wind war frisch geblieben. Klar und
blau erstreckte sich der Himmel über dem weitläufigen Klinikge‑
bäude, das mehr einer Flughafenanlage ähnelte als einem Kranken‑
haus. Der Commissaris fühlte, wie ihm das Herz schwer wurde.
»Wenn Sie wollen, gehe ich allein da rein«, sagte Julika. »Geben
Sie mir einfach den Namen eines Arztes, mit dem ich anfangenkann.« Sie stand auf der anderen Seite des Dienstwagens und sah den Commissaris abwartend an, blass, hilfsbereit und jung. Gepanzert mit abgewetztem schwarzen Leder, Reißverschlüssen und Sicherheitsnadeln. Keine einzige Falte, nicht einmal unter den Augen, deren Blau dem des Himmels in diesem Moment sehr ähnlich war.
Es war eine Versuchung, die Van Leeuwen erhofft hatte und der er trotzdem widerstand. »Professor Max Terlinden, aber der erwartet leider mich«, erklärte er und ging voraus. Als er die Empfangshalle des Poliklinik-Trakts betrat, sagte er zu sich, diesmal kommst du nicht als besorgter Ehemann einer kranken Frau; diesmal bist du hier in deiner Funktion als Commissaris der Kriminalpolizei, der eine Spur verfolgt.
Er ging schnell, denn er kannte sich aus und musste auf niemanden warten. Mit großen Schritten durchmaß er die Halle und bog in den Seitengang, der zum Direktorium Neurologie und Neurochirurgie im Erdgeschoss führte. Er klopfte an die Tür von Professor Terlindens Vorzimmer.
»Soll ich hier warten oder mit reinkommen ?«, fragte Julika hinter ihm. Er drehte sich um, fast überrascht, dass sie da war, dabei hatte er das Klappern ihrer harten Absätze die ganze Zeit hinter sich gehört.
»Stellen Sie fest, wo Doktor van Leer arbeitet«, sagte er, »auf welcher Station – Ruth van Leer. Sehen Sie sich ein bisschen um, aber nicht als Polizistin. Vielleicht könnten Sie so tun, als hätten Sie Kevin gekannt. Als wäre das Zeug, das er hier geholt hat, für
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