Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Muskeln zum Zerreißen gespannt. Sie sah auf das Blatt Papier, ohne sich zu bewegen. Sie gab ein Geräusch von sich, so leise, dass man es kaum als Geräusch erkennen konnte, geschweige denn als Weinen.
Van Leeuwen hielt sich mühsam zurück. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte Terlinden angebrüllt, lassen Sie meine Frau in Ruhe ! Was wollen Sie von ihr ? Was hat sie Ihnen getan ? Sie hat das Recht auf einen Anwalt ! »Uhr«, sagte Simone unvermittelt, »Zifferblatt«, und sie begann, etwas auf das Papier zu malen.
Langsam wanderte das Licht durch den Raum, schuf und verschob Schatten. Staubkörnchen flimmerten in der Luft. Simone schien sich kaum zu bewegen. Als sie fertig war, nahm Terlinden ihr das Blatt ab und warf einen Blick darauf. »Erzählen Sie mir etwas von sich«, sagte er.
»Was ?«, fragte Simone.
»Wie sah Ihr Vater aus ?«
Sie drehte sich um. Sie suchte Van Leeuwens Blick, aber bevor sie ihn gefunden hatte, sagte der Arzt: »Bitte, schauen Sie mich an. Wissen Sie noch, wie Ihr Vater aussah ? Oder Ihre Mutter ?«
»Mutter ? Frau.« Simone nickte eifrig, als hätte sie die Lösung gefunden. »Frau. Mutter.«
»Können Sie mir nachsprechen – Lebensversicherungspolice ?« Terlinden ließ nicht locker. »Zeigen Sie mir den Bleistift, bitte. Den Apfel. Das Notizbuch. Wie heißt Ihr Mann ?«
Simone zitterte am ganzen Körper, aber sie blieb freundlich. Ihre ganze Haltung war voller Freundlichkeit, während sie keine einzige Frage beantwortete. Endlich fragte Terlinden: »Wissen Sie, warum Sie hier sind, Mevrouw ?«
»Wo bin ich denn ?«
»In einem Krankenhaus.«
»Wer hat mich hergebracht ?«»Ihr Mann, Mevrouw. Sie sind verheiratet, und Ihr Mann macht sich Sorgen um Sie.«
»Ich habe nicht viel Geld.«
Terlinden lächelte beruhigend. »Wir würden Sie gern ein paar Tage bei uns behalten«, sagte er. »Nur zur Beobachtung.«
Simone erstarrte. »Ich will mich nicht scheiden lassen«, sagte sie ängstlich.
»Aber nein, Mevrouw, ich glaube, das will auch sonst niemand«, sagte Terlinden und bat sie, einen Moment draußen zu warten. Sie wollte nicht ohne Van Leeuwen gehen, und so brachte er sie hinaus und setzte sie auf den Stuhl im Vorzimmer.
Der Neurologe zeigte ihm das Blatt Papier, auf dem sie ihre Aufgaben gelöst hatte. Das Zifferblatt der Uhr war nicht zu erkennen, und die Zahlen darauf gehorchten keiner erkennbaren Ordnung. Es gab nur einen Zeiger. Dort, wo Simone ihren Namen hingeschrieben hatte, stand nichts als Frau in krakeligen, kaum erkennbaren Buchstaben.
Lautlos wie rieselnder Schnee löste sich die Welt, in der Van Leeuwen zu Hause gewesen war, in Nichts auf.
»Wir müssen sie einigen Tests unterziehen«, sagte der Arzt. »In zwei Tagen können Sie Ihre Frau wieder abholen.«
Am nächsten Tag hatte Van Leeuwen Simone nicht besuchen können, und als er in der Klinik anrief, hieß es, sie sei nicht zu sprechen. Auch Terlinden war unabkömmlich gewesen, sodass der Commissaris keine andere Wahl gehabt hatte, als bis zum Abend des darauf folgenden Tages zu warten. Die Nacht allein in der leeren Wohnung hatte er als befremdlich empfunden, sorgenvoll, aber auch dankbar für die Stille.
Am folgenden Nachmittag war er weit vor der verabredeten Zeit in die Klinik gefahren. In Terlindens Büro sagte man ihm, Simone sei noch mit dem Professor bei der Magnetresonanztomographie. Das Wort jagte Van Leeuwen Angst ein. Er suchte die Tomographiestation, und als man ihn nicht hineinlassen wollte, schob er die Assistentin in ihrer gestärkten weißen Kluft einfach beiseite und platzte in den Untersuchungsraum.
Terlinden schien nichts anderes erwartet zu haben. Er blickte nur kurz von seinem Monitor zur Tür, ehe er zu erklären begann. »Was Sie auf diesem Bildschirm hier sehen, ist das Gehirn Ihrer Frau. Schön plastisch; so haben Sie sich das nicht vorgestellt, oder ? Das Gehirn ist das einzige Wunder, das Millionen Jahre zu seiner Entwicklung benötigt hat – und darüber hinaus auch noch das einzige, das in der Lage ist, sich selbst zu zerstören. Auf den ersten Blick scheint es sich nur um einen zweieinhalb Pfund schweren Brocken grauweißer Zellmasse zu handeln, aber es ist dieser Brocken, der Dostojewski befähigt hat, Die Brüder Karamazov zu schreiben; ohne den Bach nicht in der Lage gewesen wäre, die Goldberg Variationen zu komponieren und Rembrandt niemals einen Pinsel geführt hätte, kurz, dem wir alles verdanken, was es auf der Welt an Großartigem gibt. Aber
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