Und weg bist du (German Edition)
Gegenwart zurück und ich betrachtete Noahs unentschlossenen Gesichtsausdruck, während er sich den zerknitterten Zeitungsausschnitt ansah, der in dem Umschlag gesteckt hatte. Es handelte sich um einen Artikel mit einem Foto von Seale House. Der Bericht war mit dem Tag vor Jacks Unfall datiert. Den Text, der unter dem Bild stand, kannte ich so gut wie auswendig.
Laut Polizeiangaben wurde ein historisches Gebäude an der Keyes Avenue durch ein Feuer, das heute Morgen dort ausbrach, zu großen Teilen zerstört. Das Haus stand seit einer Weile leer und sollte zwangsversteigert werden. Die Ursache des Feuers ist noch ungeklärt. Ob es sich um Brandstiftung handelte, müssen die Ermittlungen klären.
Noah drehte den Ausschnitt um, doch auch auf der Rückseite war keine Nachricht. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich davon halten soll.« Er steckte den Artikel zurück in den Umschlag und reichte ihn mir.
»Wenn du willst, kannst du heute Nacht hierbleiben.« Er deutete auf eine Tür am Ende des Flurs. »Das ist das Gästezimmer. Gleich daneben ist der Haushaltsraum, dort steht ein Trockner, für deine nassen Klamotten. In der Kommode findest du frische T-Shirts.«
Er stand auf und ging ein paar Schritte, dann fügte er über die Schulter gewandt hinzu: »Und versuch mal ein bisschen runterzukommen.«
Ich machte mir nicht die Mühe, Noah für seine Gastfreundschaft zu danken, denn mir war klar, dass er mir nicht glaubte. Hielt er das, was ich ihm gezeigt hatte, für einen Scherz? Für einen kurzen Moment schwankte meine Überzeugung, dass mein Bruder noch lebte, wie eine Kerzenflamme im kalten Windzug. Doch ich hatte keine Lust, mir meine Hoffnung durch Noahs harte Logik ersticken zu lassen, und errichtete in Gedanken einen Schutzwall darum. Außerdem wusste ich eins jetzt mit Sicherheit und war sehr froh über diese Erkenntnis: Von Noah kam der Brief nicht. Da nur er, Jack und ich von dem Decknamen Jason Dezember wussten, konnte ihn auch niemand anders geschickt haben. Mein Bruder war also noch am Leben und musste sich irgendwo in Watertown aufhalten. Zumindest war der Poststempel von dort.
Warum Jack seinen Tod vorgetäuscht und mir diesen Artikel geschickt hatte, blieb vorerst rätselhaft. Doch ich war mir sicher, dass er mich in den letzten Wochen nicht grundlos hatte leiden lassen. Wenn ich ihn erst gefunden hätte, würde er mir alles erklären.
drei
WATERTOWN
Nach einer traumlosen Nacht öffnete ich die Augen und sah das Zimmer in gedämpftes Licht getaucht. Der Wecker neben meinem Bett zeigte an, dass es fast elf Uhr am Morgen war. Auch dieser Tag war wolkenverhangen. Während ich ausgestreckt dalag, musste ich wieder an meinen Bruder denken. Mein Zwillingsbruder Jackson Harte und ich waren die einzigen Kinder unserer Mutter Melody. Angeblich hatten wir sie bei der Geburt fast umgebracht, weshalb sie darauf bestanden hatte, dass der Arzt ihr sofort die Eileiter durchtrennte.
Jack und ich waren beide groß und sahen uns sehr ähnlich, nur dass ich blaue Augen hatte und er braune. Da unsere Mutter klein und zierlich war, hatten wir eine gewisse Ahnung, wie unser Vater ausgesehen haben musste. Wir haben ihn nie kennengelernt und Melody sprach nicht über ihn. In den Geschichten, die Jack und ich uns über ihn ausgedacht hatten, war er immer groß gewesen. Eines Tages entschieden wir, dass er ein Basketballspieler in der NBA war und auf der Centerposition spielte.
»Welcher, glaubst du, könnte es sein?«, fragte ich, während wir uns die Play-off-Runde im Fernsehen ansahen. Ich war damals zehn und musterte eifrig die Gesichter der einzelnen Spieler, wann immer die Kameras sie zeigten, in der Hoffnung, eine eindeutige Ähnlichkeit mit einem von ihnen feststellen zu können, der womöglich zu unserem Erbgut beigetragen hatte.
»Du musst nach dem Ausschlussverfahren vorgehen«, antwortete Jack. »Die südländisch aussehenden Typen kommen schon mal nicht in Frage. Zumindest für dich nicht wegen deiner blauen Augen. Bei mir könnte so jemand schon passen.«
»Eh, du Schlaumeier, hast du vergessen, dass wir Zwillinge sind?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Doch, natürlich!«
»Nicht, wenn Mom am selben Tag Sex mit zwei verschiedenen Männern hatte.« Als er meinen Blick sah, musste er lachen. »Das soll es geben, Schwesterchen. Ich habe darüber in der Zeitung gelesen.«
Ich wandte den Blick ab, damit er mein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Einen Moment später verließ ich den Raum und ging in unser
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