Und weg bist du (German Edition)
winziges, schäbiges Zimmer. Schneeflocken so hart wie Salzkristalle prasselten gegen die Fensterscheibe.
»He«, rief Jack, der mir gefolgt war. »Vor fünf Minuten hast du noch behauptet, dass sie wahrscheinlich mit dem gesamten Basketballteam geschlafen habe. Hast du das schon vergessen?«
»Darum geht es gar nicht.« Ich wandte mich von dem eisigen Schnee ab und sah ihn an. »Was ist, wenn wir tatsächlich nur Halbgeschwister sind?« Die Vorstellung, dass Jack und ich nicht zu 100 Prozent das gleiche Erbgut haben könnten, war für mich ziemlich niederschmetternd.
Er schüttelte den Kopf. »Unseren Verstand haben wir jedenfalls nicht von Melody geerbt, das steht fest. Sie könnte kein Kreuzworträtsel zu Ende bringen, selbst wenn es um ihr Leben ginge. Unser Denkvermögen müssen wir also von unserem Vater haben.«
Ich lächelte und nickte zustimmend, da ich unbedingt glauben wollte, dass er Recht hatte. Er legte den Arm um meine Schultern. »Weißt du was? Ich habe ein Rätsel für dich? Glaubst du, du kannst es lösen?«
»Klar.«
»Es ist aber nicht leicht und ich gebe dir dieses Mal keine Tipps.«
»Letztes Mal habe ich auch keine gebraucht.«
Bei dem Gedanken daran musste ich erst lächeln und im nächsten Moment gegen die Tränen kämpfen. Jack war der einzige in meiner Familie, der mir je etwas bedeutet hat. Er hatte mich davor bewahrt durchzudrehen, genauso wie ich ihn davor bewahrt hatte. In unserer unsteten Kindheit, die von Melodys Vernachlässigung und der Brutalität ihrer wechselnden Freunde geprägt war, hatten wir für einander gesorgt – eine Unterstützung, die einem Einzelkind verwehrt geblieben wäre. Zwischen uns gab es keinerlei Geschwisterrivalität. Manchmal neckten wir uns, aber zu keiner Zeit wurde es bösartig.
Der plötzliche Tod meines Bruders hatte ein riesiges Loch in mein Leben gerissen. Meine Trauer war abgrundtief. Besuche beim Therapeuten halfen nichts, auch wenn er mir versicherte, dass der Heilungsprozess vor allem Zeit brauche. Was mich gerettet hatte, war das unerwartete Eintreffen des Briefs von Jason Dezember. Ich musste einfach weitermachen und herausfinden, wo Jack war.
Beim Verlassen des Bettes stöhnte ich laut auf. Mein Hals schmerzte noch immer von Noahs Würgegriff. Als ich ins Badezimmer trat, bemerkte ich, dass meine Klamotten gewaschen und ordentlich gefaltet im Wäschekorb lagen. Hatte sich Noah ihrer angenommen, weil er nett sein wollte oder weil ihn der nasse Kleiderhaufen auf dem Badezimmerfußboden gestört hatte? Ich ging davon aus, dass es der letztere Grund war. Obenauf lagen zudem eine frische Zahnbürste, ein Kamm und ein Umschlag mit meinem Namen. Darin befand sich Geld. Auch wenn ich dankbar hätte sein müssen, hinterließ es einen faden Beigeschmack. Vielleicht hatte Noah mir das Geld nur gegeben, um sicherzustellen, dass ich sein Haus so schnell wie möglich verließ und ihn nicht mehr belästigte.
Nachdem ich geduscht hatte, wischte ich den beschlagenen Spiegel ab und betrachtete mein Gesicht. Für einen kurzen Moment sah ich dort wieder das kleine Mädchen von einst vor mir. Wie ein geisterhaftes Hologramm schwebte das Bild der jungen Jocey vor meinem inzwischen schmaleren Gesicht, das jetzt von weißblonden Strähnen eingerahmt wurde. Die letzten Jahre hatte ich viel Zeit darauf verwendet, diese Jocey verschwinden zu lassen, doch mit der Rückkehr nach Watertown war ihre Wiederbelebung wohl unvermeidbar geworden. Erneut war ich zu dem zurückhaltenden, vorpubertären Mädchen mit dem straßenköterfarbenen Haar und der flachen Brust geworden. Ich war so schlaksig, unbeholfen und spät in meiner Entwicklung gewesen, dass ich manchmal heute noch überrascht war, wenn ich in den Spiegel sah.
Ich griff nach dem Föhn und begann meine langen, glatten Haare zu trocknen. Im Alter von zwölf Jahren hatte ich meine kurze Frisur so sehr gehasst, dass ich mir insgeheim geschworen hatte, sie später immer lang zu tragen. Nie mehr würde jemand anderes darüber bestimmen.
Als ich den Föhn ausstellte und abermals mein Spiegelbild betrachtete, verschwand die alte Jocey schließlich. Jetzt, mit fast achtzehn, wusste ich, dass mein unattraktives Aussehen damals auch etwas Gutes gehabt hatte. Angesichts der vielen Männer, die vorübergehend in Melodys Leben traten, wären mir sicher viel schlimmere Dinge widerfahren, wenn ich so hübsch wie meine Mutter gewesen wäre. Doch da ihre Lover nur ein groß gewachsenes, dürres Kind vor sich gesehen
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