Und wenn es die Chance deines Lebens ist
gut, dann warte ich eben. Sie wissen wohl nicht zufällig, wo der Schalterbeamte hingegangen ist?«
»Nein. Wahrscheinlich macht er gerade Mittagspause. Hier gibt es aber einen Fahrkartenautomaten.«
Der Typ reagierte nicht auf die Information. Stattdessen fläzte er sich nun auf die Bank, wie er es auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig getan hatte. Frédéric blieb kerzengerade neben dem Gleis stehen. Die beiden Männer waren ganz allein unter dem weißen Himmel neben den grauen Schienen. Die Minuten vergingen.
Und plötzlich ertönte in dieser tristen Szenerie ein Lachen. Oder vielmehr ein Kichern.
»Manche Leute haben wirklich Humor!«
Der Typ mit der Kapuze, der hinter Frédéric auf der Bank saß, lachte ganz für sich.
»Ich hatte einen Freund«, fuhr er fort. »Einen guten Freund. Er ist vor zwei Wochen gestorben.«
»Das tut mir leid«, sagte Frédéric, der dabei unmerklich eine noch steifere Haltung einnahm.
»Der arme Kerl. Aber für ihn war es bestimmt besser so. Auf jeden Fall hat er mir ein paar Sachen vererbt. Ich dachte, er hinterlässt mir, was weiß ich, eine Briefmarkensammlung, seine Katze oder zwei bis drei Millionen auf einem Schweizer Konto. Aber nein, er vererbt mir eine Zugfahrkarte. Und ich steig wie ein Trottel einfach in den Zug und fahre los. Zur Erinnerung an ihn. Zur Erinnerung an ihn und unsere gemeinsamen Stunden.«
»Vielleicht wollte er nicht, dass Sie die gemeinsame Zeit so schnell vergessen.« Frédérics Herz klopfte zum Zerspringen.
»Mein erster Gedanke war natürlich, die Fahrkarte zu Geld zu machen«, sagte der Mann mit der Kapuze. »Die Fahrkarte kann nicht umgetauscht und ihr Preis nicht in bar ausgezahlt werden, hieß es bei der Bahn. Nicht, dassmich das besonders überrascht hat. Er war halt ein bisschen sonderbar, mein Freund. Meine innere Stimme sagt mir, er wollte, dass ich diesen Zug nehme. Also bin ich mit dem Zug gefahren, aber weitergebracht hat mich das nicht.«
»Hat er Ihnen noch etwas hinterlassen?«, fragte Frédéric.
»Nein, sonst nichts. Nur diese Fahrkarte.«
»Wie hieß denn Ihr Freund?«
»Fabrice.«
»Fabrice Nile«, sagte Frédéric. Seine Anspannung ließ nach, und nun war er bereit, sich auf ein Gespräch einzulassen.
»Exakt, Fabrice Nile«, erwiderte der Einwanderer. Er hob den Kopf und schaute Frédéric mit seinen strahlenden dunklen Augen wohlwollend an. »Woher wissen Sie das?«
Frédéric zog seine Fahrkarte aus der Tasche.
»Mein Erbe.«
»Mensch, das gibt’s doch nicht! Dieser Mistkerl! Fabrice wollte wohl, dass wir uns begegnen. Die Freunde meiner Freunde sind auch meine Freunde ...«
»Ich habe den Namen Fabrice Nile vor vier Tagen zum ersten Mal gehört«, sagte Frédéric.
»Das wird ja immer besser. Na gut ...« Er streckte die Hand aus. »Jamel.«
»Frédéric.«
Die beiden Männer schüttelten einander die Hand. Als ein Güterzug vorbeifuhr, bebten die Gleise, und das Rattern hallte durch den Bahnhof. Dann herrschte wieder Stille auf dem Bahnsteig.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Jamel seufzend. »Gehen wir ein Bier trinken und stoßen auf Fab an?«
»Wir können uns im Zug unterhalten. Ich muss zurück nach Paris.«
»Ja, ich auch. Dieser Mistkerl hat mir nicht einmal eine Rückfahrkarte vermacht.«
»Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen aushelfen«, begann Frédéric und öffnete sein Portemonnaie. Jamel hob abwehrend die Hand, um ihm zu bedeuten, dass das nicht nötig sei. Er würde sich ein Ticket am Fahrkartenautomaten ziehen. Als er zum Automaten ging, sah Frédéric, dass er hinkte.
Nach und nach trafen nun die anderen Reisenden auf dem Bahnsteig ein. Frédéric musterte Jamel. Ihn würde er nicht aus den Augen verlieren wie den Jugendlichen. Als Jamel zurückkam, steckte er seine Kreditkarte ins Portemonnaie und fragte Frédéric: »Ah, da fällt mir gerade etwas ein. Sagen Sie mal, Sie kennen nicht zufällig einen Anwalt?«
»Ich bin Anwalt.«
»Monsieur Solis?«, fragte Jamel und zeigte mit dem Finger auf ihn.
Frédéric nickte. Jamel riss die Augen auf, und als er erfreut lächelte, blitzten strahlend weiße Zähne in seinem gebräunten Gesicht.
»Na, das ist ja ’n Ding«, sagte Jamel. »Da wäre ich nun gar nicht drauf gekommen. Einen Anwalt hätte ich mir viel älter vorgestellt, so ’ne Art Grufti halt.«
»Hat Fabrice Nile denn mit Ihnen über mich gesprochen?«
»Klar, Mann. Oft sogar. Solis, der Anwalt. Das ist der, der das Bild haben soll.«
Als sich die Tür des Aufzugs
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