Und wenn es die Chance deines Lebens ist
öffnete, atmete Pétronille tief durch. Sie war angekommen. Auf der dritten Etage des Krankenhauses Saint-Nicolas in Pontoise, 25 Kilometer nordwestlich von Paris. Sie hatte ihren ganzen Einfallsreichtum und Mut einsetzen müssen, um herauszufinden, auf welcher Station Fabrice Nile gelegen hatte. Jetzt musste sie beide Eigenschaften noch einmal unter Beweis stellen, denn ihre Recherchen begannen jetzt erst.
Dorothée hatte ihrer Schwester geraten, mit ihren Nachforschungen in der Kantine zu beginnen, denn dort wurde am meisten erzählt. Mit leisen Schritten betrat Pétronille den kleinen Raum, der in Pastelltönen gestrichen war. Auf den Tischen standen Seidenmargeriten in Blumentöpfen. Ein paar Pflegekräfte in weißer Arbeitskleidung und mit Gesundheitssandalen kamen und gingen. Niemand schien auf Pétronille zu achten. Auf dieser Station lagen Patienten, die sich nach ihren Operationen erholen mussten. Hier herrschte keine Eile, und alle gingen langsam. Vor allem aber wirkte die Station irgendwie verlassen, worüber sich Pétronille wunderte.
Kurz entschlossen setzte sie sich neben den einzigen Besucher in der Kantine, der neue Pantoffeln trug. Sie schätzteihn auf über siebzig. Der große Mann, dessen Rücken stark gekrümmt war, machte einen etwas einfältigen Eindruck. Er trug eine kleine Brille und hatte einen langen weißen Bart mit einem Stich ins Gelbliche. Mit einer Schere in der Hand blätterte er in Gartenzeitschriften. Rings um ihn herum auf dem Tisch lagen ausgeschnittene Blumen, eine Tube Klebstoff und ein großer brauner Briefumschlag, aus dem Dahlien auf Hochglanzpapier herausguckten.
Pétronille entschuldigte sich für die Störung und fragte ihn in sanftem Ton, ob er einen Fabrice Nile gekannt habe.
»Fabrice? Na klar kannte ich Fab. Sind Sie eine Verwandte? Nein, was für eine dumme Frage. Fabrice hatte keine Familie. Hören Sie, es passiert nicht oft, dass jemand nach Fabrice fragt. Eigentlich nie. Und dabei hätte es sich gelohnt, ihn zu kennen, das schwöre ich Ihnen. Sie sind doch nicht etwa von der Polizei?«
»Mein Gott, nein. Nein«, stammelte Pétronille. »Ich bin keine Angehörige, aber dennoch ... nun ... Es ist kompliziert. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir etwas über Fabrice erzählen würden, über sein Leben, wie er so war, was er gerne mochte, all das.«
Da der Mann sie misstrauisch musterte, beschloss Pétronille, alles auf eine Karte zu setzen.
»Ich kannte ihn nicht, aber ich hätte ihn gerne kennengelernt.«
»Ich glaube Ihnen gern, dass es um eine komplizierte Sache geht«, sagte der Mann mit den neuen Pantoffeln seufzend. »Das war typisch für Fabrice. Was soll ich Ihnen über ihn erzählen? Ach, der Arme.«
Er atmete tief ein. »Was soll ich Ihnen erzählen?«, fragte er noch einmal und seufzte wieder. Und dann sah Pétronille zu ihrem Erstaunen, dass er sich eine Träne von der Wange wischte.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Das sind die verdammten Medikamente, die sie mir für das Bein geben. Darum heule ich beim geringsten Anlass. Man muss jedoch zugeben, dass Fabs Geschichte nicht gerade lustig ist. Wissen Sie, er hat seit ... ja, seit fast 15 Jahren auf der Straße gelebt. Ich glaube, das hat er gesagt.«
»Ja, ich weiß.«
Der Alte schwieg nun. Er starrte auf seine ausgeschnittenen Blumen auf dem Tisch, und Pétronille hatte Angst, er würde erneut zu weinen beginnen. Als sie sich gerade überlegte, was sie tun sollte, stand der Mann auf.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas«, sagte er.
An der Wand der kleinen Kantine hing ein Poster des »Piraten-Workshops« für die kranken Kinder. Daneben befand sich eine Korktafel mit zahlreichen Polaroidfotos, die mit Reißzwecken befestigt waren. Auf den Fotos waren Leute zu sehen, die lächelnd Collagen oder Postkarten mit exotischen Orten in die Kamera hielten. Auf einem kleinen Plakat war ein Schwarz-Weiß-Foto mit den verschlungenen Händen eines alten Mannes, einer Frau und eines Kindes zu sehen. Auf dem Foto stand: »Family is not about blood. It’s about who is willing to hold your hand when you need it the most.« Über der Korkwand stand: »Die Jagd nach dem Schatz« und darunter »Samstags & mittwochs 14:00–15:30 Uhr.«
Der Alte, der auf Krücken zu der Wand gegangen war, zeigte auf eines der Fotos. »Fabrice.«
Pétronille betrachtete es aufmerksam. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Fabrice Nile«, murmelte sie fast unhörbar. Er blickte sie von der anderen Seite der Kamera an. Seine Haut
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