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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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dieser Spur folgen? Der Bahnhof von Argenteuil hatte mit Sicherheit wie alle kleinen Bahnhöfe nur einen Ausgang. Wenn er rannte, könnte er den Jungen noch einholen und ihn ausfragen.
    »Folge dem Weg der Abgewiesenen.« Nein, das Rätselhalf ihm auch nicht weiter. Die Maler hatten sowohl Argenteuil als auch Eragny gemalt. Sollte er wirklich diesen Jungen aufhalten, der ein wichtiges Treffen mit seinem bisher unbekannten Vater hatte? Das Signal, das das Schließen der Türen ankündigte, hallte in seinem Kopf wider. Frédéric stieg wieder ein und kehrte an seinen Platz zurück.
    Die persönliche Wahrheit. Die Worte des Jugendlichen gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Truth . War er nicht genau davor geflohen? Noch etwa zehn Minuten, ehe der Zug in Eragny eintraf, und er versuchte mit all seiner Kraft zu vermeiden, an seinen Vater zu denken. An seinen Vater, der nach jenem Tag kurz vor Weihnachten 1979 nie wieder zurückgekehrt war. Doch eines Tages, als Frédéric schon erwachsen war, bekam er einen Brief. Er hielt den Briefumschlag aus feinem Papier mit einer schrägen Handschrift und einer Adresse auf der Rückseite in der Hand. Villa de Saxe 25 – 75007 Paris. Er erinnerte sich noch gut daran. Dort gab es kein Gefängnis. Frédéric hätte selbst dieser Jugendliche sein können, der in einen Zug stieg, um seine persönliche Wahrheit zu erfahren. Aber dazu war es zu spät. Die Zeit war vergangen – 32 Jahre. Fast 12.000 Tage, die den Mann, der Kalender entwarf, nach und nach ausgelöscht hatten. Fast 12.000 Nächte, in denen ein kleiner Junge sich immer wieder sagte, er müsse tapfer sein und seinen Vater vergessen. Und als er wie aus heiterem Himmel eines Tages den Brief erhielt, war der kleine Frédéric erwachsen geworden und beschloss, ihn nicht zu lesen. Die Vergangenheit ruhen zu lassen.
    Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein. Er war in Eragny angekommen.

Frédéric wartete auf dem Bahnsteig des Bahnhofs. Die Fahrgäste seines Zuges hatten sich längst zerstreut, und die Fahrgäste für den nächsten Zug waren noch nicht angekommen. Es schneite. Frédéric war allein. Nur ein junger Mann, vermutlich ein Einwanderer, in einer Daunenjacke, die Kapuze über den Kopf gezogen, wartete auf dem Bahnsteig gegenüber auf einer Bank. Sein Atem bildete weiße Schwaden in der Luft, und ab und zu rieb er sich die Hände. Er gehört wohl zu der Sorte von Leuten, die an Bahnhöfen herumlungern, weil sie nichts Besseres zu tun haben, dachte Frédéric. Sonst sah er hier niemanden. Sogar der Bahnmitarbeiter war verschwunden.
    Damit die Fahrt nicht umsonst gewesen war, hatte Frédéric eine Runde durch das alte Dorf Eragny gedreht und dabei natürlich nichts Besonderes entdeckt. Nein, hier würde er nichts finden. Er hätte dem Jugendlichen in Argenteuil folgen sollen. Dort versteckte sich der Hinweis, den Fabrice Nile ihm geschickt hatte. Zu spät! Ihm blieb nichts anderes übrig, als nach Hause zurückzukehren und zu warten, bis die Termine für die anderen Ausflüge anstanden. Ebenso wie der junge Mann auf der Bank hatte auch Frédéric nichts zu tun, und daher dachte er an Marcia.
    Marcia. Wenn sie nicht diese fixe Idee gehabt hätte, die letztendlich zu ihrer Trennung führte, diesen immer dringenderen Wunsch, wie alle anderen eine Familie zu gründen ... Frédéric wollte das nicht. Deshalb hatten sie sich getrennt. Die Entscheidung, die sie anschließend getroffen hatte, war einzig und allein ihre Angelegenheit. Jetzt, acht Monate später war Frédéric noch immer wütend auf sie, und trotzdem musste er ständig an sie denken.
    Frédéric schlug den Kragen seines Mantels hoch und warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr. Der nächste Zug nach Paris kam erst in 25 Minuten. Er drehte sich zu der anderen Seite des Bahnsteigs um. Sogar der junge nordafrikanische Einwanderer war verschwunden. Jetzt war er ganz allein. Es schneite immer heftiger. Würde der Zug bei diesem schlechten Wetter auch wirklich fahren? Frédéric nahm sein Handy aus der Tasche. Der Akku war leer. Pétronille ...
    »Wissen Sie, wann der Zug nach Paris kommt?« Frédéric zuckte zusammen, als der junge Mann mit der Kapuze ihn ansprach. Jetzt sah er, dass er gar nicht mehr so jung war, wie er zuerst gedacht hatte, vielleicht Ende dreißig. Er hatte braunes gelocktes Haar, und das Weiße in seinen Augen war schneeweiß.
    »Um 12:24 Uhr«, stammelte Frédéric.
    »Da muss ich ja fast noch eine halbe Stunde totschlagen«, sagte der Mann seufzend. »Na

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