Und wenn es die Chance deines Lebens ist
war gerötet. Er hatte verquollene Augen und über einer Augenbraue einen gelblich verfärbten blauen Fleck, aber er lächelte. Das schüchterne und dennoch stolze Lächeln eines Menschen, der niemals fotografiert wurde. Das Plakat, das er in die Kamera hielt, war keine Collage wie die Bilder der anderen, sondern es bestand aus schwarzen Kritzeleien, die wie winzige Zeichnungen aussahen. In der Mitte des Blattes befand sich ein roter Punkt.
»Was bedeuten diese Collagen?«
Der Alte nahm das Foto von Fabrice ab und kehrte langsam zu dem Tisch zurück. Pétronille folgte ihm.
»Einer der Krankenpfleger bietet einen Kurs an. Er findet übrigens heute Nachmittag statt, falls Sie kommen möchten.«
»Leider muss ich in einer halben Stunde wieder fahren. Ich möchte meine Schwester zu einer Ultraschalluntersuchung begleiten. Sie ist schwanger.«
Der alte Mann schien ihr gar nicht zuzuhören. »Mademoiselle«, begann er mit einem verschmitzten Lächeln, »wenn Sie jemanden fragen, egal wen, was er sich im Leben wünscht. Was, glauben Sie, antwortet er?«
Plötzlich erinnerte Pétronille sich an den Nachmittag, als sie Dorothée mit in Frédérics Wohnung genommen hatte. »Glück, glaube ich, und Reichtum.«
»Ganz genau. Wir alle spazieren durch das Leben und wünschen uns, glücklich zu sein. Und das ist nicht erst seit gestern so. Schon die griechischen Philosophen haben davon gesprochen. So sind die Menschen. Überall. Sie sind alle gleich. Ist es nicht so?«
Pétronille stimmte ihm zu.
»Wenn ich Ihnen hingegen sage: Mademoiselle, Sie haben sechs Richtige im Lotto und sind viel reicher, als Sie es sich jemals erträumt haben. Da Sie nun über die erforderlichen Mittel verfügen, müssen Sie nur noch entscheiden, wie Sie Ihr Leben gestalten möchten, um glücklich zu sein. Also, was werden Sie tun?«
»Hm ... Da muss ich erst nachdenken. Vielleicht würde ich mir gerne etwas kaufen, zum Beispiel ...«
»Sehen Sie!«, rief der alte Mann triumphierend. »Sie müssen nachdenken, was Sie wirklich glücklich macht! Und wenn ich wiederum Ihrem Nachbarn sage, dass er sehr viel Geld im Lotto gewonnen hat, würde auch er nachdenken. Und würde er das Geld für die gleichen Dinge ausgeben wie Sie?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Da haben wir es. Alle Menschen wünschen sich Glück. Aber Glück ist nicht für jeden dasselbe. Verstehen Sie, was ich meine?«
Pétronille fragte sich, was all das mit Fabrice Nile zu tun hatte.
»In dem Kurs Die Jagd nach dem Schatz überlegt jeder in seiner Ecke, was ihn glücklich machen würde. Man stellt es sich bildlich vor ... das ideale Leben, wenn Sie so wollen. Man klebt Bilder, die man in Zeitschriften findet, auf ein Blatt und fertigt eine Collage an. Erstaunlicherweise sieht man immer gleich, wer die Neuen sind. Sie kleben Bilder von den Stränden der Seychellen auf ihre Collagen.«Er kicherte. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Reisekataloge dort schon zerschnitten wurden. Doch irgendwann graben alle ein bisschen tiefer und kommen zu ganz persönlichen Dingen. Am Ende ähnelt keine Collage der anderen.«
Während der alte Mann sprach, schob er die ausgeschnittenen Blumen in den Briefumschlag. Pétronille sah ein altes Schwarz-Weiß-Foto, vermutlich aus den Sechzigern. Es war das Bild einer jungen Frau in einem herzförmigen Bilderrahmen.
»Fabrice Nile hat keine Collagen geklebt«, sagte Pétronille.
»Nein.« Der alte Mann lächelte. »Er konnte verdammt gut zeichnen. Und darum hat er lieber gezeichnet, anstatt Bilder auszuschneiden. Auf den kleinen Zeichnungen ist alles zu sehen, wovon Fabrice träumte. Schauen Sie, er hat sogar Wörter hinzugefügt: Wahrheit, Toleranz, Liebe, Ewigkeit. Sie sehen es vielleicht nicht, aber da ist auch ein kleines Auto. Er hat es recht gut hinbekommen. Ein Coupé Corvette von 1961. Wussten Sie, dass er von Beruf Automechaniker war?«
Als die Augen des alten Mannes wieder feucht wurden, legte Pétronille ihm eine Hand auf seine Schulter.
»Es tut mir leid. Das müssen schmerzvolle Erinnerungen für Sie sein ...«
»Nein, nein, das sind die Medikamente. Diese Scheißmedikamente, ich hab’s Ihnen ja schon gesagt. Er mochte schöne Autos, vor allem die Corvette. Und eines Tages habe ich in dem Zeitschriftengeschäft gleich neben dem Haus, in dem ich wohne, ein kleines Spielzeugmodellautovon dieser 61er Corvette entdeckt. Ich habe das Auto gekauft und es Fabrice geschenkt. Sie hätten mal sehen sollen, wie Fabrice sich über den
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