Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Sitznachbar nicht vorhatte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
»Ich habe meinen Vater noch nie gesehen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich ihn gefunden hatte, aber jetzt da ich weiß, wo er ist, lasse ich nicht mehr locker. Er schien sich über meinen Besuch zu freuen. Er wohnt in Argenteuil. Ich bin noch nie aus Paris herausgekommen. Bis Argenteuil ist es nicht weit. Wenn ich daran denke, dass er mein ganzes Leben dort gelebt hat, ganz in der Nähe, nur eine kurze Zugfahrt entfernt. Mit meiner Ermäßigungskarte musste ich kaum etwas bezahlen. Ich habe immer geglaubt ... hm ... ich weiß auch nicht, dass er vielleicht in Timbuktu lebt.«
Bei dem Wort Timbuktu begann der Junge zu lachen.
»Wissen Sie, es gibt Situationen im Leben, da muss man seine ganz persönliche Wahrheit suchen. Kennen Sie Platon, den Philosophen? Wir nehmen ihn gerade in der Schule durch. Die anderen finden es mühsam, das alles zu begreifen, aber ich finde es interessant. Platon hat gesagt, dass wir unser Leben in einer Höhle verbringen und nur Schatten sehen. Nur Schatten, und da hat er nicht unrecht. Mit Schatten kommt man besser zurecht als mit der Wahrheit. Und jeder muss seine persönliche Wahrheit jenseits der Schatten suchen. Das hat Platon gesagt.
Mir hätte es genügt, mir einzureden, dass ich meinen Vater eines schönen Tages sehen würde. Man sagt sich ja immer, dass man morgen alles Mögliche tun wird. Diese Lebenseinstellung, alles auf morgen zu verschieben, kenne ich gut. Doch es gibt Ereignisse im Leben, die uns in unsere Schranken weisen.«
In diesem Augenblick fiel Frédéric auf, dass der Junge unter der Mütze kahl war. Ereignisse im Leben, die uns in ihre Schranken weisen . Er hatte Krebs.
»Aber ich packe das schon, denn ich bin ein Kämpfer. Aber ich glaube, dass ich es nicht schaffen werde, ohne meine persönliche Wahrheit gefunden zu haben. Verstehen Sie, was ich meine? Darum fahre ich nach Argenteuil. Ich weiß, ich gehe Ihnen auf die Nerven. Ich gehe allen Leuten auf die Nerven. Meine Freunde haben die Schnauze voll davon, sich ständig meine Geschichten anzuhören. Ehrlich gesagt habe ich ein bisschen Schiss. Aber selbst wenn mein Vater ein Psychopath sein sollte – ich mache das für mich und nicht für ihn.«
Als der Jugendliche seinen MP 3-Player in die Hosentasche stopfte, wurden die Tattoos auf seinem Arm entblößt. Rund um verschnörkelte asiatische Schriftzeichen stand das Wort TRUTH in kalligrafischen Fraktur-Buchstaben. Diese Zeichen zogen Frédérics Aufmerksamkeit auf sich. Hatte er sie nicht irgendwo schon einmal gesehen?
»Ich habe ein bisschen Schiss, weil ... Na ja, wenigstens habe ich keine Angst mehr, dass er ein netter Kerl sein könnte, verstehen Sie? Dass ich der verlorenen Zeit nachtrauere und so ...«
»Ja, ich verstehe«, erwiderte Frédéric, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen. Ja, Frédéric verstand das gut. Der Junge schaute ihn dankbar an und begann laut zu lachen.
»Wenn ich allerdings den Geschmack meiner Mutter bedenke, wird er wohl doch eher ein Psychopath sein. Schöne Reise noch, Monsieur.«
Der Jugendliche stand auf, nahm seine Tasche und verschwand auf dem Gang des Zuges. Frédéric zwang sich, seine Gefühle zu verdrängen, damit sie ihn nicht überwältigten. Er fühlte sich mit einem Mal verletzlicher. Und dann fiel ihm ein, wo er diese sonderbaren Schriftzüge schon einmal gesehen hatte: auf der Zeichnung von Fabrice Nile.
Rund um das Wort WAHRHEIT , das sich im Gewirr der winzigen Details der Zeichnung verlor, ja, jetzt war er sich ganz sicher, dass er diese Schriftzüge dort gesehen hatte. Fabrice Nile musste dieses Tattoo gesehen und das Wort Wahrheit durch die englische Übersetzung Truth ersetzt haben. Fabrice Nile hatte beabsichtigt, dass er diesem Jungen begegnete. Frédéric sprang auf und lief auf den Gang, den jetzt eine Großmutter mit einem großen Koffer und einem kleinen Mädchen an der Hand versperrte. Er entschuldigte sich, doch der Gang war sehr schmal, und an seinem Ende drängten sich immer mehr Fahrgäste aus der anderen Richtung. Der Zugbegleiter kündigte den Bahnhof in Argenteuil an. »La Gare d’Argenteuil.« Diesen Bahnhof hatte Monet auch gemalt. Inmitten einer verschneiten Winterlandschaft.
Frédéric drang weiter vor, sah den Jugendlichen aber nicht mehr. Der Zug hielt am Bahnhof. Frédéric stieg aus und blickte auf den Bahnsteig. Auch dort konnte er ihn nicht entdecken. Sollte er seine Reise bis Eragny fortsetzen oder
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