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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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anzustellen.

Samstag, der 15. Dezember, 10:50 Uhr, am Gare Saint-Lazare. Frédéric hielt die Fahrkarte mit seiner kalten Hand fest und wartete wie so viele andere mit gerecktem Hals unter der großen Abfahrtstafel am Gare Saint-Lazare. Dieser Bahnhof ähnelte in keiner Weise mehr dem Bahnhof, den Monet 1877 gemalt hatte: die blaugrauen Dampfwolken, die gräulich grünen Farbnuancen und die romantische Stimmung – all das war verschwunden. Betete er, dass der Zug niemals kam? Die Zahlen auf der Tafel sprangen in dem Augenblick um, als die Lautsprecherdurchsage verkündete, dass der Zug nach Eragny-Neuville jetzt auf Gleis 12 Einfahrt hatte. Frédéric spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Langsamer als alle anderen steuerte er auf den Bahnsteig zu. Jemand, der es sehr eilig hatte, rempelte ihn mit seinem Trolley an. Wagen Nummer 12, zweite Klasse. Da. Er brauchte nur noch einzusteigen. Und was, wenn er in Gefahr war? Wenn ihn jemand in einen tödlichen Hinterhalt lockte?
    Er schaute sich um, aber was suchte er? Ein bekanntes Gesicht? Jemanden, der ihn beobachtete? Einen Auftragskiller hinter einem Kiosk? Die Fahrgäste waren alle mit ihrer Reise beschäftigt und in Gedanken praktisch schonangekommen, noch ehe der Zug sich überhaupt in Bewegung gesetzt hatte. Die Angst vor einer unbequemen Fahrt war derzeit ihre einzige Sorge.
    Als Frédéric die Trittstufen des Regionalexpress hinaufstieg, spürte er nach den zahlreichen schlaflosen Nächten die körperliche und psychische Erschöpfung. Er fühlte sich plötzlich furchtbar schwach. Es schien ihm, als würde er in eine Realität wechseln, die nicht mehr seine war. Er brach zu einer Reise ins Unbekannte auf.
    Schließlich erreichte Frédéric den Platz, der laut Fahrkarte für ihn reserviert war. Ein Fensterplatz. Auf seinem Platz saß aber schon jemand. Ein Jugendlicher von höchstens 17 Jahren in einer zerschlissenen Jeans, mit einer Wollmütze, auf die ein Totenkopf genäht war, mit Tattoos und einem MP 3-Player. Die Musik, die aus den Kopfhörern drang, war so laut, dass der ganze Wagen mithören konnte. Frédéric seufzte. Für Kinder und Jugendliche brachte er keine Geduld auf. Vor allem nicht für Jugendliche, die glaubten, erwachsen zu sein, und noch weniger für jene, die sich für supercool hielten. Er klopfte dem Jugendlichen auf die Schulter.
    »Pardon, das ist mein Platz.«
    »Oh, Verzeihung, Monsieur. Entschuldigen Sie bitte.«
    Frédéric, der nicht damit gerechnet hatte, dass der Junge so höflich war, bedauerte sofort seinen harschen Ton. Nachdem der Jugendliche aufgestanden war und sich auf den benachbarten Sitzplatz gesetzt hatte, nahm er Platz und sagte: »Das macht doch nichts.«
    Die wenigen Worte, die er mit dem Jungen gewechselt hatte, ließen Frédéric für einen Moment sein Unbehagenvergessen. Als er nun auf seinem Platz saß und der Zugbegleiter das Schließen der Türen ankündigte, wusste er, dass es kein Zurück mehr gab. Um sich wichtigzumachen, tippte er auf seinem Smartphone herum. Der Akku war fast leer. Er versuchte, sich auf seinen elektronischen Terminkalender zu konzentrieren. Pétronille hatte vergessen, den neuen Termin für das Treffen mit John zu bestätigen. Und der Bericht über Fabrice Nile? Er schickte ihr eine kurze E-Mail und forderte sie auf, ihm spätestens am Montagmorgen die Ergebnisse ihrer Recherchen vorzulegen. Pétronilles Leistungen ließen in letzter Zeit entschieden zu wünschen übrig. Doch auch dieser Gedanke lenkte ihn nicht lange ab. Frédéric musterte die anderen Fahrgäste. Niemand achtete auf ihn. Die Reisenden saßen alle mit ruhigen, gleichgültigen Mienen auf ihren Plätzen und gaben sich der Illusion hin, genau zu wissen, was sie erwartete, wenn der Zug sein Ziel erreichte.
    Am Fenster des Zuges zogen die Vororte vorüber, und er sah die Landschaft, Graffiti und leer stehende Lagerhallen. Seit der Zeit der Impressionisten, die die Dampflokomotiven zu den Ausflugslokalen an den Ufern der Seine brachten, hatte sich so vieles verändert, dachte Frédéric. Das monotone Rattern des Zuges machte ihn so schläfrig, dass er beinahe einnickte. Als ihn der Jugendliche neben ihm ansprach, wurde Frédéric aus seinen Träumen gerissen.
    »Stört Sie die Musik?«
    »Nein, kein Problem«, log Frédéric.
    »Ich muss mir den Kopf mit Musik zudröhnen«, sagte der Junge nach kurzem Schweigen. »Denn gleich werde ich meinen Vater sehen.«
    Frédéric lächelte höflich und hoffte im Stillen, dass sein

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