Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Schlitten gefreut hat ... Oh, diese verdammten Medikamente. Ich werde den Arzt bitten, mir andere zu geben, wenn es möglich ist. Fabrice war noch nicht alt, wissen Sie. Er sah zwar alt aus, aber eigentlich war er noch jung ...«
Und jetzt geriet der Mann richtig in Fahrt. Er redete und redete, und Fabrice’ ganzes Leben wurde vor dieser Unbekannten ausgebreitet, der Ersten, die danach gefragt hatte. Das Leben auf der Straße, der Alkohol, der Tod seiner Frau, sein Glück beim Kartenspiel. (»Er hatte immer ein gutes Blatt!«) Seine Kleidung, die er stets so sorgfältig faltete, dass sie aussah, als käme sie frisch aus der Reinigung. Seine Leber, die ihm Probleme machte, und sein Traum, eine Werkstatt für Sammlerautos zu eröffnen, seine guten Spanischkenntnisse. (»Er sprach wie ein Spanier, ja, ich kannte sogar Spanier, die ihre Sprache nicht so gut gesprochen haben wie Fabrice.«) Seine Wut, wenn es um die staatliche Unterstützung ging; seine Zeichenhefte; sein Interesse an den traditionellen Radrennen Paris-Brest-Paris; seine Freunde von der Straße, die manchmal bis an den Parkplatz kamen; seine Wunde am Bein, die sogar einmal von Maden befallen worden war. Seine Erinnerungen an die Kindheit, als er mit seiner Mutter in den Ferien in die Bretagne fuhr; seine Tränen, wenn er von seiner Mutter sprach; seine Witze, die er uns und den Pflegekräften hier erzählte, die ihn sehr mochten. »Fabrice war ein feiner Kerl.«
Ja, er scheint wirklich ein feiner Kerl gewesen zu sein,sagte sich Pétronille, die aufmerksam zugehört hatte. Sie hoffte, dass er sich nicht auf irgendwelche krummen Dinger eingelassen hatte. Der Gedanke, dass der arme Mann jetzt nach seinem Tod in Sicherheit war, beruhigte sie beinahe. Reichte das nicht aus, um Frédéric Bericht zu erstatten? Was suchte er eigentlich? Pétronille bedankte sich bei dem alten Mann, der Maurice hieß, dass er ihr von Fabrice Nile erzählt hatte. Jetzt wurde es höchste Zeit für sie zu gehen, sonst würde sie zu spät zu der Verabredung mit ihrer Schwester kommen.
»Schade, dass Sie nicht bleiben können, bis der Kurs beginnt, Pétronille. Dieser Kurs hebt die Stimmung.«
»Wirklich? Aber ist es denn nicht deprimierend, sich ein Leben vorzustellen, dass man letztendlich niemals führen wird?«
Maurice strahlte sie an.
»Da irren Sie sich aber gewaltig. Es wird real, sobald man alles aufs Papier bringt. Ja, so ist es tatsächlich.«
Pétronille warf ihm einen skeptischen Blick zu.
»Es müssen allerdings zwei Voraussetzungen erfüllt sein, damit es Wirklichkeit wird. Erstens muss man das Leben, das man in Wahrheit leben will, auf seiner Schatzkarte darstellen, und nicht etwa das, von dem man denkt, dass es vielleicht gut für einen wäre. Und zweitens muss man daran glauben.«
Pétronille schaute dem Mann in die Augen. Maurice glaubte daran. Sie sah die Blumen aus den Zeitschriften vor Augen, die er in den Umschlag geschoben hatte.
»Ich wohne ganz allein in einer Wohnung mit Blick auf die Ringautobahn von Paris. An einen Garten ist da nichtzu denken«, sagte er leise, als hätte er ihre Gedanken erraten.
Pétronille fragte sich, ob seine durch die Medikamente hervorgerufene Empfindsamkeit ansteckend war, denn plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Sie drückte Maurice die Hand und versprach zu versuchen, demnächst einmal an dem Kurs teilzunehmen.
Sie war spät dran. Mit schnellen Schritten lief sie den fast leeren Gang hinunter und stieß beinahe mit einem Arzt zusammen, der gerade die Tür zu einem Zimmer öffnete. Als Pétronille weiterging, hörte sie ihn sagen: »Monsieur Ernest Villiers. Wie geht es Ihnen heute?«
Und als sie sich zu dem Zimmer 312 umdrehte, dessen Tür soeben geschlossen wurde, erinnerte sie sich, wo sie diesen Namen schon mal gelesen hatte: auf der Geburtsurkunde von Frédéric, die dem Antrag zur Verlängerung seines Reisepasses beigelegen hatte ... Ernest Villiers war sein Vater.
Dorothée blätterte in einem drei Jahre alten Exemplar der Paris Match . Sie saß in dem Wartezimmer des Facharztes für Ultraschalluntersuchungen. Pétronille war nicht gekommen. Vielleicht hatte sie es vergessen. Ihr Chef, dieser Frédéric, machte sie noch ganz verrückt. Sie arbeitete viel zu viel. Außerdem vermutete Dorothée, dass ihre Schwester in ihren tollen Chef verknallt war. Sie hätte sie neulich nicht damit aufziehen sollen.
Pétronille stürmte in das Wartezimmer, lief auf ihre Schwester zu und umarmte sie. Sie war völlig
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