Und wenn es die Chance deines Lebens ist
die herrlichen Farben, das Licht, das sich sekündlich selbst neu erfand, und der Zauber des Vergänglichen. In seinem Garten entdeckte er wahre Schätze. Monet malte den Garten,bis er erblindete, und wenn man es genau bedenkt, hat er damit der Welt die Augen geöffnet.«
Ernest konnte verdammt gut erzählen, fand Pétronille. Er sprach weiter über Monets Garten und holte ab und zu tief Luft. Pétronille hatte das Gefühl, die Gemälde vor sich zu sehen. Dann verstummte er auf einmal.
Pétronille fragte sich, ob es für sie jetzt an der Zeit war zu gehen oder ob Ernest ihr noch etwas anvertrauen wollte. Ernest hatte seinen Sohn noch gar nicht erwähnt. Jener Satz, den er am Tag zuvor gesagt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf: »Ich musste in meinem Leben entsetzliche Entscheidungen treffen.«
Als Ernest seine Erzählung fortsetzen wollte, bekam er einen furchtbaren Hustenanfall. Pétronille sprach beruhigend auf ihn ein und schlug vor, dass sie ihn allein lassen würde, damit er sich ausruhen konnte.
»Nein, bitte bleiben Sie noch ein Weilchen. Letztes Mal habe ich Ihnen gesagt, dass ich entsetzliche Entscheidungen treffen musste. Alles begann in Monets Garten in Giverny. Ich muss oft daran denken, dass ich allen viel Leid erspart hätte, wenn ich nicht dorthin gegangen wäre. Giverny. Ich erinnere mich ganz genau. Es war im Dezember 1979.«
Es war 8:28 Uhr, als Frédéric am Eingang des Gartens in Giverny ankam. Die Sonne ging soeben auf, und die Dämmerung wich einem neuen Tag. Jamel war nicht erschienen. Frédéric sah am Tor ein Schild mit den Öffnungszeiten des Gartens:
1. April – 1. November
9:30 – 18:00 Uhr
Lag hier ein Irrtum vor? Er warf noch einmal einen Blick auf die Eintrittskarte. Dort stand 8:30 Uhr, 22. Dezember. In diesem Augenblick streckte eine junge Frau den Kopf durch das Tor.
»Monsieur Solis? Herzlich willkommen in Claude Monets Haus.«
»Ach, Sie haben geöffnet?«, stammelte Frédéric. »Merkwürdig ... Ich habe diese Eintrittskarte geschenkt bekommen und weiß nicht genau, was mich erwartet.«
»Da hat Ihnen aber jemand ein sehr schönes Geschenk gemacht«, sagte die junge Frau lächelnd. »Mit Ihrer Eintrittskarte kommen Sie wie nur wenige glückliche Auserwählte in den ganz besonderen Genuss, in aller Ruhe außerhalb der Saison durch den Park zu spazieren. Auf diesen Wegen tummeln sich pro Jahr eine halbe Million Besucher, und dieser Publikumsansturm geht mitunter zu Lasten der Ruhe. Sie haben Glück, denn heute Morgen sind Sie unser einziger Gast.«
»Ich bin wirklich ganz allein?«
»Das Personal ist natürlich da. Möchten Sie, dass ich nachsehe, ob für heute weitere Besucher angekündigt sind?«
Frédéric bejahte die Frage. In diesem Moment vibrierte sein Handy. Jamel hatte ihm eine SMS geschrieben. Er entschuldigte sich, er sei heute Morgen verhindert, und bat ihn, ihn nach dem Besuch des Gartens anzurufen.
Die junge Frau führte Frédéric zu dem Haus mit den grünen Fensterläden. Nach ein paar Schritten blieb er stehen, um die Landschaft ringsum in sich aufzunehmen. Frédéric stand in Monets Garten und war hingerissen. Er hatte sich immer nur mit Fabrice Nile und der Eintrittskarte beschäftigt, sodass ihn der Zauber des legendären Gartens völlig unvorbereitet traf. Kahle Bäume, weiße Blumenbeete, eine unglaubliche Palette leiser Farben. Plötzlich sprach alles von einem Zauber, den er in den Verkaufsräumen und den Katalogen der Galerien gesucht hatte und nun hier fand. Warum hatte er den Garten nie zuvor besucht? Eine fahle Sonne ging über dem stillen Park auf. Er war ganz allein in diesem wunderschönen Garten, der Winterschlaf hielt. Die Erinnerung an die Farben der Blumen, an den Gesang der Vögel, an die Heiterkeit des Frühlings und die Pracht des Sommers – das alles war verschwunden. Es blieben die perfekten Linien, die all das insich bargen, die Erhabenheit der kahlen Bäume, die grenzenlose Fantasie eines verliebten Gärtners und ein Garten, den die Anmut in ihrer reinsten Form berührt hatte. Und dieser traumhafte Wintertag.
Frédéric setzte sich auf eine der grünen Bänke. Er versuchte sich den Moment einzuprägen, in dem er den ersten Blick auf den Garten geworfen hatte, jenen Augenblick unbefangener Bewunderung, der bereits für immer vergangen war. Er konnte nicht sagen, wie lange er auf der Bank sitzen blieb.
Schließlich kam die junge Frau auf ihn zu.
»Ich habe nachgesehen. Außer dem Personal ist heute Morgen doch noch ein
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