Und wenn es die Chance deines Lebens ist
gaben sich die Hand, und Marcia schlug vor, ein paar Schritte durch den Park zu gehen.
»Wann ist es so weit?«, fragte Jamel.
»Am 6. Januar.«
»Ah. Am Tag der Heiligen Drei Könige.«
Sie gingen schweigend durch den Park, denn Jamel wusste auf einmal nicht mehr, wie er beginnen sollte. Plötzlich bemerkte er, dass die anderen Spaziergänger sie neugierig musterten. Er lächelte. Was für einen schönen Anblick sie beide wohl boten in diesem Park, in dem das Eis auf den Bäumen und die silbern bestäubten Blumenbeete in der Wintersonne glitzerten und hier und da das glückliche Lachen dick eingemummelter Kinder erklang. Er in seinem Sonntagsstaat und sie mit der Anmut einer blonden Madonna. Was die Spaziergänger wohl dachten,als sie dieses Paar sahen, das ein Baby erwartete? Macht Platz, liebe Leute, hier kommt das Glück. Und Jamel, der sich genau das in seinem Leben wünschte, eine nette Frau, die mit ihm an einem herrlichen Wintertag Hand in Hand durch einen Park spazierte, kam zu dem Schluss, dass Frédéric ein ausgemachter Dummkopf war.
Endlich fand Jamel den Mut für seine Worte. Während Marcia ihm aufmerksam zuhörte, heftete sie den Blick auf ihre Fußspuren im schmutzigen Schnee. Marcia atmete die frische Luft ein, stellte ein paar Fragen und lächelte. Ab und an glaubte Jamel auf ihrem von der Sonne beschienenen Gesicht Bedauern, Entschlossenheit und auch Trauer über ihre zerbrochene Liebe zu erkennen. Doch sie gab sich ihrer Trauer nie völlig hin. Marcia hörte sich Jamels Vorschlag an und sagte dann lächelnd: »Ich denke darüber nach.«
Zum Abschied reichte sie ihm die Hand. Jamel schaute ihr nach, der dunklen Silhouette dieser blonden Schönheit auf einem verschneiten Weg, auf dem ihre anmutigen Schritte wie auf einem Gemälde von Alfred Sisley Spuren hinterließen.
»Kennen Sie den Maler Claude Monet, Pétronille?«
Sie saß auf einem Stuhl neben Ernests Bett und aß Windbeutel mit Schokolade, die Ernest nicht angerührt hatte. Pétronille murmelte »ja« und leckte sich die Finger ab. Sie hütete sich davor hinzuzufügen, dass sie sogar eine ganze Menge über ihn wusste, denn sie hatte in Frédérics Bibliothek in Dutzenden von Büchern und Ausstellungskatalogen geblättert.
»Als junger Mann habe ich bei einer Firma gearbeitet, die Schreibwaren herstellte, und ich war für die Konzeption der Kalender zuständig«, fuhr er mit müder, krächzender Stimme fort. »Ich liebte meine Arbeit. Wissen Sie, wenn man Kalender verkauft, verkauft man schöne Bilder und nicht die Zeit, die vergeht. Zu unserem Sortiment gehörten auch Kalender mit den Meisterwerken der großen Maler. Die Kalender mit den Bildern von Claude Monet gefielen mir am besten. Ich liebte vor allem die Bilder, die er im Frühling in seinem Garten gemalt hat: Seerosen , Die japanische Brücke , Der Rosenweg und Die Trauerweide . Kennen Sie Monets Garten in Giverny? Er ist heutzutage sehr beliebt ...«
Pétronille nickte. Was für ein Zufall, dass Ernest gerade heute darüber sprach, während ... Frédérics Schachtel auf der Konsole! Sie erinnerte sich an die Eintrittskarte für den Garten in Giverny, die unter dem Brief des Notars lag, der Frédéric über die Erbschaft von Fabrice Nile informierte. Sogar an das Datum auf der Eintrittskarte erinnerte sie sich. Es war der 22. Dezember – heute! Pétronille versuchte, sämtliche Fakten zu verbinden, aber es passte nicht zusammen. Dennoch konnte das alles unmöglich purer Zufall sein ...
»... Die ersten Jahre als junger Künstler lebte er im Elend. Er konnte sich nie satt essen und musste seine Gemälde für ein paar Sous verkaufen. Doch er malte weiter, ohne jemals seiner Malweise oder seinem speziellen Blick auf die Motive untreu zu werden, und das trotz der Beleidigungen seitens der Kunstkritiker und der Öffentlichkeit. Mit der Zeit verkauften sich Monets Arbeiten besser, und einige Händler erwarben regelmäßig Gemälde von ihm. Nun konnte Monet sich dieses Haus in der Normandie kaufen und einen wunderschönen Garten anlegen. Dort hat er 43 Jahre seines Lebens verbracht.
Oh, ich bin natürlich kein Experte, Pétronille, aber die Bilder, die in seinem Garten entstanden sind, scheinen mir seine persönlichsten Werke zu sein. Sobald er Geld mit seinen Bildern verdiente, begann er ebenso wie Gauguin, Renoir und Cézanne zu reisen. Letztendlich fand Monet sein Glück – und, ich glaube, auch seine Wahrheit – jedoch nicht am Ende der Welt, sondern in seinem Garten. All
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