Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
Vom Netzwerk:
dieses Mal gehörte auch ein Teil von ihm zu dieser Schönheit. Ein Teil von ihm war im Bauch der Frau, die er liebte.
    Frédéric gewann sofort seine Fassung wieder. Er dachte an all das, was zurzeit in seinem Leben geschah, an seine großen finanziellen Sorgen, seinen Sisley, der ihm bald nicht mehr gehören würde, sofern kein Wunder geschah, und an den Schatten von Fabrice Nile. Wenigstens litt außer ihm niemand unter dieser Situation. So gesehen hatte er wohl die richtige Entscheidung getroffen.
    Nun saß Frédéric im Zug nach Giverny. Seine Eintrittskarte berechtigte ihn zu einem Besuch des Gartens um halb neun Uhr morgens. Da Giverny eine Stunde von Paris entfernt war, hatte er in einem kleinen Hotel ganz in der Nähe von Monets Haus ein Zimmer gebucht. Jamel hatte versprochen, am Eingang des Gartens auf ihn zu warten.
    Der Zug würde in wenigen Minuten sein Ziel erreichen. Frédéric strich über Marcias Bauch. Dann stand er auf und legte die Zeitung auf einen Platz, der weit von seinem entfernt war.

Auch andere Hände strichen über Marcia Gärteners Bauch auf dem Schwarz-Weiß-Foto in der Zeitung. Dann schnitt eine Schere das Bild aus, woraufhin es auf ein aufgeschlagenes Fotoalbum fiel. Auf einer Seite klebte Frédérics Geburtsanzeige. Auf einer anderen eine Glückwunschkarte zum Vatertag mit der Zeichnung eines Tigers, die mit Linsen dekoriert war, von denen sich mittlerweile schon etliche abgelöst hatten, und in winziger Kinderschrift die Worte »einen schönen Vatertag, Papa«. Das Foto eines kleinen Jungen, dem die Schneidezähne fehlten; ein vergilbter Artikel aus einer Lokalzeitung Student aus Rouen erhält Studienplatz in Harvard , mit einem jungen Frédéric, der seine Zulassungsbescheinigung, die ihn berechtigte, an der berühmten amerikanischen Universität zu studieren, in die Kamera hielt; eine ganze Reihe von Artikeln über den Rechtsanwalt Frédéric Solis, Fotos aus der Voici mit Marcia und ein aktueller Artikel über den Erwerb eines Gemäldes von Alfred Sisley.
    Und ganz hinten in dem Fotoalbum eine Seite eines Kalenders vom Dezember 1979.
    Ernest schlug das Album zu. In seinem Zimmer war es ruhig. Der Tag ging zur Neige. Er lächelte. Weil das Bedauern zur Bedeutungslosigkeit verblasst war? Oder war es dieses winzige Glück über einen Zeitungsartikel oder über die mit Vanillecreme gefüllten Windbeutel, die nach Hoffnung schmeckten? Er lächelte, und dabei spielte der Grund keine Rolle. Dann rollten zwei kleine Tränen, vielleicht die letzten, über seine eingefallenen Wangen, perlten von seiner Hand ab und verschwanden in den Bettlaken.

Jamel stand vor einem schönen Wohnhaus im 17. Arrondissement, das am Parc Montsouris lag. Er verglich noch einmal die Adresse mit der, die er gestern auf eine Seite der Libération gekritzelt hatte. Ehe Jamel auf die Klingel mit dem Namen »Gärtener« drückte, holte er tief Luft.
    Er wusste, dass Marcia ihn in ihrer Wohnung auf einem Monitor sehen konnte. Jamel wartete. Für den Besuch bei Marcia Gärtener hatte er sich anders als sonst angezogen: Er trug eine marineblaue Cabanjacke von Ralph Lauren, einen Schal aus beigefarbener Alpakawolle und eine neue Jeans. Es dauerte nicht lange, bis er eine weibliche Stimme mit einem leichten deutschen Akzent vernahm.
    »Guten Tag, Madame, ich bin ein Freund von Frédéric und ...«
    »Frédéric wohnt nicht hier.«
    »Ja, ich weiß, er wohnt auf dem Quai d’Anjou. Ich muss mit Ihnen sprechen.«
    »Worüber? Frédéric und ich haben uns getrennt.«
    »Es geht um seine Familie.«
    »Er hat keine Familie«, warf Marcia ein.
    »Hören Sie, ich habe vollstes Verständnis dafür, dass Sie keinen Fremden in Ihre Wohnung lassen wollen. Daherschlage ich vor, wir trinken irgendwo einen Kaffee oder gehen ein Stück im Park spazieren. Was Ihnen lieber ist. Es dauert keine zehn Minuten. Bitte! Es ist wirklich wichtig.«
    Einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Jamel drückte die Zeitung so fest zusammen, dass sich seine Fingerknöchel weiß verfärbten.
    »Okay, ich komme runter«, sagte Marcia schließlich.
    Jamel stand auf dem vereisten Bürgersteig und trat von einem Bein aufs andere. Er war nervös. Damit hatte er absolut nicht gerechnet, aber es war wunderbar. Jetzt musste er clever vorgehen.
    Wenige Minuten später kam Marcia herunter. Jamel starrte sie an. Sie trug keinerlei Make-up und sah wunderschön aus. Der Bauch war so dick, dass das Baby darin sicherlich gemütlich Platz hatte, dachte Jamel. Sie

Weitere Kostenlose Bücher