Und wenn es die Chance deines Lebens ist
anderer Besucher hier.«
Frédéric lief ein Schauder über den Rücken. War das der Mann, mit dem er hier verabredet war?
»Ach, das hätte ich fast vergessen. Dieser Brief wurde für Sie abgegeben«, fügte die junge Frau hinzu.
Er nahm den Umschlag entgegen und schaute auf die leicht geneigte Schrift, in der auch die Verse geschrieben waren:
Monsieur Frédéric Villiers-Solis
Frédéric fröstelte. Noch vor seinem achten Geburtstag hatte seine Mutter wieder ihren Mädchennamen angenommen. Seit über 30 Jahren hatte ihn niemand mehr Villiers genannt.
»Ja, 1979, genau am 7. Dezember«, fuhr Ernest fort. »Die neu gegründete Monet-Stiftung hatte ihren Sitz im Haus des Künstlers in Giverny. Ich fuhr dorthin, um über den Abdruck einiger seiner Werke in dem Kalender für 1981 zu verhandeln. Noch heute sehe ich mich vor dem grünen Tor stehen und warten. Es wehte ein eisiger Wind, und ich erinnere mich, dass ich es sehr bedauerte, keine Handschuhe eingesteckt zu haben. Es war ein strenger Winter ... wie dieses Jahr.«
Ernest spähte durch das Fenster, als würde er den Himmel über Giverny in jenem Winter erblicken.
»Eine junge Frau öffnete das Tor und informierte mich, dass die Dame, mit der ich verabredet war, sich wegen des starken Schneefalls verspäten würde. Sie bot mir an, im Haus auf sie zu warten. Trotz der Kälte fragte ich sie, ob ich inzwischen durch den Garten spazieren könne. Ich konnte es kaum erwarten, ihn mir anzusehen, denn ich bewunderte alle Gemälde des großen Meisters, die er dort gemalt hatte. Zu jener Zeit war der Garten noch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Meine Bitte schien die junge Frau verlegen zu machen, doch sie willigte ein. Also machte ich meine ersten Schritte durch den Garten von Claude Monet.
Ich schaute mich um und bekam einen gewaltigen Schreck.
Der Garten bot einen entsetzlichen Anblick. Er war nicht nur verwildert, sondern geradezu verwüstet. Gestrüpp, unter dem die Sträucher erstickten; Unkraut, das die Wege überwucherte; vermoderte Äste, die unter abgestorbenen Bäumen lagen. Die Maschendrahtzäune waren verrostet, die Fensterscheiben der Gewächshäuser zerbrochen, Scherben und Unrat von schmutzigem Moos bedeckt. Als ich den verwahrlosten Garten durchquerte, sah ich das ganze Ausmaß der Zerstörung. Nichts hatte überlebt. Schließlich gelangte ich an der japanischen Brücke an. Mein Herzschlag setzte aus. Die Brücke war noch da, die kleine Brücke des großen Meisterwerks, ein trauriges, farbloses Relikt vergangener Sommer, das wie eine Ruine aus dem schwarzen Wasser ragte, in dem ein Schuh ohne Schnürsenkel und ein toter Fisch schwammen.
Betrübt irrte ich über diesen Blumenfriedhof. Ich hatte den Frühling auf allen meinen Kalendern vor Augen, die Iris und die Seerosen, die Rosen und die Glyzinien, doch dieser Garten erinnerte nur an die Vergänglichkeit. Die Zerstörung war verheerend und der Garten so verwildert, dass man hätte meinen können, die Zeit habe sich gerächt. Für wen hatte dieser Monet sich gehalten, dass er glaubte, er könne einen Garten für die Ewigkeit anlegen? Hier sah man, was Gärtnern widerfuhr, die sich für Künstler hielten.
Aufgewühlt eilte ich zurück zum Haus. Wie gerne hätte ich dieses Fleckchen Erde gekauft, um ihm seine Pracht zurückzugeben, die ihm die Zeit geraubt hatte. Doch waskonnte ich, ein einfacher Kalenderverkäufer, schon tun? In diesem Moment entdeckte ich einen Mann, der im schmutzigen Schnee kniete und in der Erde grub. In einem Umkreis von vielleicht zwei oder drei Metern hatte er die Blumenbeete wieder in Ordnung gebracht. Ein kleiner Strauch konnte wieder frei atmen, nachdem das Gestrüpp herausgerissen und der Boden ringsherum mit frischer Blumenerde aufgefüllt worden war. Der Mann drehte sich zu mir um und musterte mich ein paar Sekunden. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Er hatte graue Augen, buschige Brauen, ein kräftiges Kinn, und seine leicht abstehenden Ohren waren von der Kälte gerötet. Seine glatt rasierten Wangen und der tadellose Kurzhaarschnitt waren seit 20 Jahren aus der Mode. Dabei schätzte ich ihn auf höchstens 30. Trotz alledem hätte ihn jede Frau schön gefunden. Er lächelte mich an, und dieses Lächeln kam mir plötzlich vertraut vor. Kannten wir uns? Ehe ich überlegen konnte, ob es in meinem Bekanntenkreis einen Gärtner gab, drehte er sich wortlos um und arbeitete weiter.
Inzwischen war die Dame, mit der ich den Termin vereinbart hatte,
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