Und wenn es die Chance deines Lebens ist
eingetroffen. Das Gespräch verlief überaus erfolgreich, und wir wurden uns schnell einig. Ich erlaubte mir, über den Garten zu sprechen. Sie teilte meine Enttäuschung und meinen Kummer, vertraute mir aber an, dass sie optimistisch sei. Die Stiftung habe Gelder von amerikanischen Mäzenen erhalten, und bald würden die Arbeiten beginnen, die dem Garten seine einstige Pracht zurückgeben sollten. Es sei ein Projekt, das einen langen Atem verlange, doch glücklicherweise habe Claude Monet genügend Bewunderer, sodass der Garten, nachdem er einhalbes Jahrhundert sich selbst überlassen war, zu erneuter Blüte gelangen könne.
›Übrigens‹, fuhr sie fort, ›haben wir hier einen Bewunderer, ach, was sage ich, einen Liebhaber des Gartens. Er ist Amerikaner, einer der ersten, die Geld gespendet haben, noch ehe die Stiftung entstand. Dieser Herr hat sich sogar zwei Jahre lang intensiv mit dem Thema Gartenbau und -gestaltung auseinandergesetzt, um sich an den Arbeiten beteiligen zu können. Vielleicht haben Sie ihn gesehen. Er entfernt gerade Gestrüpp und Unkraut in der Nähe der japanischen Brücke. Seit diesem Sommer ist er täglich zwei Stunden zur Stelle, ob es nun regnet, stürmt oder schneit. Die Leute in Giverny halten ihn für ein bisschen verrückt, aber ich versichere Ihnen, Monsieur, wenn die Öffentlichkeit diesen Garten eines Tages so sehen kann, wie Monet ihn gemalt hat, dann verdanken wir das außergewöhnlichen Menschen wie diesem Herrn.‹
Ich bat sie um die Erlaubnis, mich noch ein wenig in dem Garten aufzuhalten, und sie gestattete es.«
Ernest verstummte und schaute auf seine Hände.
»Seit mehr als 30 Jahren«, murmelte er, ohne aufzublicken, »frage ich mich jeden Abend, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich nicht in den Garten zurückgekehrt wäre.«
Frédéric wartete einen Augenblick, ehe er den Umschlag öffnete. Er sah sich nach allen Seiten um, doch er war allein. Vorsichtig öffnete er den Umschlag und nahm ein Schriftstück heraus. Es war ein Plan des Musée d’Orsay, dieses Faltblatt, das Touristen ausgehändigt wurde. Frédéric faltete es auseinander und entdeckte ein mit einem roten Marker eingezeichnetes Kreuz im Saal 29 auf der Ebene 5, eine Nummer ( RF 1984 64) und die Uhrzeit für ein Treffen: 14:00 Uhr.
Das rote Kreuz war auf der Etage der Impressionisten. Alles andere hätte Frédéric auch verwundert.
Diesen Garten hier in Giverny durfte er ganz alleine durchstreifen, was im Musée d’Orsay nicht der Fall sein würde. Der Besuch war für den Tag vor Weihnachten geplant, zu einer Zeit also, da erfahrungsgemäß immer großer Andrang herrschte und das Museum brechend voll war.
Er schaute auf die Rückseite des Faltblattes und stellte fest, dass dort ebenfalls mit einem Rotstift etwas geschrieben stand. Im Gegensatz zu der Schönschrift auf seinen Eintrittskarten war dieser Satz in großer Eile gekritzelt worden, als wäre er dem Schreiber erst in letzter Minuteeingefallen. »Ein wertvolles Gemälde erwartet Sie. Kommen Sie zu dem Treffen.«
Es heißt ja, man könne sich nirgends besser verstecken als in einer Menschenmenge. Frédéric dachte an seine Theorie, nach der ihm Ganoven bei einem geheimen Treffen ein gestohlenes Gemälde anboten. Während der Zugfahrt und der Bootstour hatte er gar nicht mehr an diese Möglichkeit gedacht, denn das war natürlich sehr weit hergeholt. Dennoch kam es ihm so vor, als ginge von diesem Briefumschlag eine bislang ungeahnte Gefahr aus. Außerdem lag nur noch der Museumsbesuch vor ihm. Dort würde sich alles entscheiden. In 48 Stunden.
Frédéric rief Jamel an, doch der meldete sich nicht.
Kälte und Müdigkeit ließen seine Glieder steif werden. Dennoch konnte er nicht fortgehen, ohne sich den Rest des Gartens angesehen zu haben. Vor allem den Seerosenteich. Frédéric spazierte über die kalten Wege und erblickte schließlich die Trauerweiden, die das Wasserparadies mitten im Park begrenzten. Und dann sah er sie. Die kleine japanische Brücke, die in leuchtendem Grün gestrichen war und den Teich inmitten dieser Winterlandschaft voll Heiterkeit überspannte. Jetzt wusste er, dass es diese Brücke war, die Fabrice Nile auf seine Schatzkarte gezeichnet hatte. Im Wasser des Teiches spiegelte sich der Himmel. Es schien fast so, als würden die Wolken den Besucher zu einem farbenprächtigen Thron führen, den Thron des Meisters, der früher einmal diese Wege beschritten hatte. Fasziniert blieb Frédéric stehen und bedauerte, dass
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