Undead 03 - Happy Hour in der Unterwelt
verzweifelter Stimme, wurde aber von dem Sprecher ignoriert – oder nicht gehört. »Ich heiße James und bin seit sechs Jahren, acht Monaten und neun Tagen trocken.«
Es entstand eine kurze Pause, als er vom Rednerpult zu-rücktrat. Man hörte ein Rascheln und ein unterdrücktes »Ups, blöde Stufen«. Und dann stand eine junge Frau Mitte zwanzig hinter dem kleinen Pult. Sie blinzelte einen Moment ins Publikum, als würde das Neonlicht sie blenden, und sagte 3
dann mit einer angenehm wohltönenden Stimme: »Äh, hallo ihr alle. Ich heiße Betsy. Ich habe seit drei Tagen und vier Stunden nicht mehr getrunken.«
»Die Kamera auf sie!«, zischte die Reporterin.
»Ich habe sie«, antwortete Charley wie hypnotisiert.
Die Frau war groß. Ihr Kopf reichte fast bis an das BITTE HIER NICHT RAUCHEN-Schild heran, und das hieß, dass sie über ein Meter achtzig war. Sie trug einen moos-grünen Hosenanzug, mit einer bis zum Kinn geknöpften Jacke, unter der man keine Bluse anziehen musste. Das tiefe Grün der Kleidung betonte die elegante Blässe ihrer Haut und ließ ihre grünen Augen groß und dunkel wirken, wie Blätter im Wald. Ihr goldblondes, gewelltes Haar war auf Schulterlänge geschnitten und hübsche rote und goldene Haarsträhnen umrahmten ihr Gesicht. Ein interessantes und fesselndes Gesicht, in dem die hohen Wangenknochen besonders hervorstachen. Als sie sprach, blitzten ihre weißen Zähne.
»Okay, äh . . . wie ich schon sagte . . . ich heiße Betsy. Und ich dachte, ich komme mal . . . Ich meine, ich habe im Internet gesehen . . . wie auch immer . . . ich dachte, vielleicht habt ihr ja ein paar Tricks auf Lager, wie ich mit dem Trinken aufhören kann.«
Totenstille. Die Reporterin sah, dass das Publikum sie ebenso gebannt anstarrte wie Charley. Was für eine Erscheinung!
Was für ein Outfit! Was . . . waren die Schuhe etwa Bruno Maglis? Die Reporterin schob sich näher heran. Es waren Bruno Maglis! Womit verdiente diese Frau ihr Geld? Sie selber hatte fast dreihundert Dollar für das Paar bezahlt, das zu Hause in ihrem Kleiderschrank stand.
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»Es ist nur . . . dieser Drang ist immer da. Ich wache auf und kann an nichts anderes denken. Ich gehe ins Bett. Und ich denke immer noch daran.«
Alle nickten. Auch Charley nickte und wackelte mit der Kamera.
»Es ist so beherrschend. Es beherrscht dein Leben. Du fängst an, deinen Zeitplan nach deinem Bedürfnis zu trinken einzurichten. Wenn ich zum Beispiel hier mit meiner Freundin frühstücke, kann ich nachher dort in diese Straße abbiegen, während sie in die andere Richtung weiterfährt. Oder ich sage wieder einmal ein Abendessen mit einem Freund ab, weil ich meine Dosis brauche. Mit ihm kann ich ja einen neuen Termin ausmachen.«
Alle nickten noch heftiger. Einige Männer schienen Trä-
nen in den Augen zu haben! Gott sei Dank nickte Charley nicht mehr, sondern zoomte so nah wie es nur ging auf die Frau.
»Nimm den Anzug auf«, wisperte die Reporterin.
»Das kenne ich so gar nicht«, fuhr die Frau fort, »natürlich habe ich schon einmal Lust auf etwas, aber doch nicht so. Ich finde das abstoßend.«
Kurzes Gelächter.
»Ich habe versucht aufzuhören, aber dadurch bin ich krank geworden. Und ich habe mit einigen meiner Freunde darüber gesprochen, aber sie finden, dass ich es einfach akzeptieren muss. Haha. Und meine neuen Freunde haben damit überhaupt kein Problem. Ich nehme an, sie sind – wie nennen Sie das? – Co-Trinker.« Mehr Nicken im Raum. »Hier stehe ich also und habe ein Problem. Ein großes Problem. Und ich dachte, dass es mir vielleicht helfen würde, mit Ihnen darüber 5
zu sprechen. Das ist alles.« Alle schwiegen, daher fügte sie hinzu: »Das ist wirklich alles.«
Spontaner, fast wilder Applaus. Die Reporterin wies Charley an, einen Kameraschwenk zu machen, um die Reaktion des Publikums einzufangen. Sie war nicht sicher, dass der Sprecher es erlauben würde, die Gesichter in den Zehn-Uhr-Nachrichten zu zeigen, aber sie wollte den Film im Kasten haben. Nur für den Fall.
Und sie wollte, dass Charley die Frau aufnahm, wenn sie wieder an ihren Platz ging, aber als er wieder zurückschwenk-te, war sie verschwunden.
Die Reporterin und ihr Kameramann suchten zehn Minuten lang nach der hinreißenden Fremden, aber ohne Erfolg.
Beide fragten sich, wie jemand so einfach aus einem kleinen Konferenzraum verschwinden konnte.
Einfach so.
Mist.
6
1
Ich nippte noch einmal an meinem Tee (Orange Pekoe, sechs Stücke Zucker) und
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