Undercover
Wieso warten Sie bis zur letzten Minute, um mir davon zu erzählen?«
»Der Fall ist äußerst sensibel und muss sehr diskret behandelt werden. Stellen Sie sich vor, Sie sind blind und merken, dass ein Einbrecher in der Wohnung ist. Wie im Horrorfilm. Was noch wichtiger ist: Möglicherweise finden Sie heraus, dass die Engländerin das erste Opfer des Boston Strangler war.«
»Anfang April 1962, sagen Sie?« Win runzelt die Stirn. »Seinen vermeintlich ersten Mord beging er erst zwei Monate später, im Juni.«
»Das muss doch nicht heißen, dass er vorher nicht auch schon getötet hat. Vielleicht hat man die älteren Fälle nur nicht mit ihm in Verbindung gebracht.«
»Wie sollen wir Ihrer Meinung nach beweisen, dass Janie Brolin - beziehungsweise die dreizehn weiteren Opfer - vom Boston Strangler ermordet wurde, wenn wir immer noch nicht genau wissen, wer er wirklich war?«
»Wir haben die DANN von Albert DeSalvo.«
»Es konnte nie bewiesen werden, dass er der Strangler war, aber was noch wichtiger ist: Haben wir die DANN vom Janie-Brolin-Fall für einen Vergleich?«
»Das müssen Sie selbst herausfinden.«
Win weiß nun, dass es keine DANN gibt. Wie sollte es auch, gute fünfundvierzig Jahre später? Damals gab es noch keine forensischen DANN-Tests, nicht einmal den Gedanken daran. Also gibt es auch nichts zu beweisen oder zu widerlegen.
»Für Gerechtigkeit ist es nie zu spät«, doziert Lamont. »Es wird Zeit, dass Bürger und Polizei die Kriminalität gemeinsam bekämpfen. Unsere Wohnviertel zurückerobern, nicht nur hier, sondern im ganzen Land.« Dasselbe hat Lamont auch in ihrer wenig aufregenden Vorlesung gesagt. »Wir werden ein Konzept erstellen, mit dem man überall arbeiten kann.«
Raggedy Ann tippt eine SMS in ihr Handy. Was für ein Freak! Auf dem Harvard Square gibt es zig von dieser Sorte. Vor kurzem beobachtete Win, wie ein Mann den Bürgersteig vorm Supermarkt mit der Zunge ableckte.
»Selbstverständlich nichts davon an die Presse, bevor der Fall gelöst ist. Und dann übernehme ich das. Viel zu heiß für Mai«, beschwert sich Lamont und erhebt sich von der Bank. »Punkt zehn Uhr morgen früh in Watertown, beim Polizeichef.«
Sie lässt ihren halbvollen Becher Caffe Latte stehen, damit Win ihn pflichtschuldig in den Müll befördert.
Eine Stunde später macht Win gerade seine dritte Übung an der Beinpresse, als sein iPhone wie ein großes Insekt summt. Er greift danach, wischt sich mit einem Handtuch übers Gesicht und klemmt das Bluetooth-Headset ans Ohr.
»Tut mir leid, aber da mach ich nicht mit«, sagt Stump als Antwort auf die Nachricht, die er auf ihrer Mailbox hinterlassen hat.
»Wir reden später darüber.« Win hat nicht die Absicht, im Fitnessbereich des Charles darüber zu diskutieren. Das Training hier kann er sich eigentlich gar nicht leisten, darf die Geräte aber als Gegenleistung für seine Beziehungen und seine Beratung in Sicherheitsfragen benutzen.
In der Umkleidekabine duscht er kurz und zieht wieder seine alten Sachen an, nur die Schuhe nicht. Die tauscht er gegen Motorradstiefel. Er greift nach seinem Helm, seiner gepolsterten, atmungsaktiven Jacke und den Handschuhen. Sein Motorrad, eine rote Ducati Monster, steht vor dem Hotel auf dem für ihn reservierten Platz auf dem Bürgersteig. Win stopft gerade seine Sporttasche in den Hartschalenkoffer und verschließt ihn, als Cal Tradd auf ihn zukommt.
»Hätte gedacht, einer wie Sie würde eine Superbike fahren«, sagt Cal.
»Ach ja? Und wie kommen Sie darauf?«, kann Win sich nicht verkneifen zu fragen.
Sich mit diesem verwöhnten Schnösel abzugeben ist das Letzte, was Win will, aber Cal hat ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Win hätte nie gedacht, dass Cal etwas von Motorrädern versteht, schon gar nicht von einer Ducati 1098 S Superbike.
»Ich wollte auch immer so eine«, sagt Cal. »Ducati, Moto Guzzi, Ghezzi-Brian. Aber wer mit fünf Jahren Klavier lernt, bekommt nicht mal ein Skateboard.«
Win hasst dieses Selbstmitleid der armen reichen Kinder. Die kleinen Mozarts, die schon mit fünf Jahren Konzerte geben.
»Und, wann machen wir mal zusammen eine Spritztour?« Cal lässt nicht locker.
»Was ist so kompliziert an dem Wort niemals? Ich bin nicht bei der Mitfahrzentrale. Und das habe ich Ihnen schon … mal überlegen … ungefähr fünfzigmal gesagt.«
Cal gräbt in den Taschen seiner Cargohose, zieht ein gefaltetes Blatt hervor und reicht es Win. »Meine Telefonnummern. Dieselben, die Sie
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