Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
kein silberner Avalanche, es ist kein orangefarbener Himmel zu sehen, kein Feuer. Alles sieht völlig normal aus. Sogar friedlich. Die Vögel zwitschern, leise raschelt das Laub der Espen, und mit der Welt scheint alles zum Besten zu stehen.
Ich bin früh dran.
Ich weiß, dass das Feuer auf der anderen Seite des Berges ist, und es bewegt sich stetig auf diese Stelle zu. Es wird kommen. Ich brauche nur zu warten.
Ich gehe von der Straße, setze mich und lehne mich an einen Baum und versuche, mich zu konzentrieren. Wieso sollte Christian überhaupt hier sein?, frage ich mich. Was sollte ihn veranlassen, den weiten Weg hierher zur Fox Creek Road auf sich zu nehmen? Es fällt mir schwer, ihn mir in hüfthohen Gummistiefeln vorzustellen, wie er wieder und wieder eine Angel über dem Fluss auswirft. Irgendwas daran kommt mir nicht richtig vor.
Nichts ist hier richtig, denke ich. In meiner Vision sitze ich nicht hier und warte darauf, dass er kommt. Er ist zuerst da. Ich tauche auf, wenn der Truck schon hier parkt, und gehe rauf in den Wald, und er ist schon da. Er blickt auf das herannahende Feuer.
Ich schaue auf die Uhr. Die Zeiger bewegen sich nicht. Sie ist bei elf Uhr zweiundvierzig stehengeblieben. Ich habe das Haus gegen neun heute Morgen verlassen, bin wahrscheinlich gegen zehn Uhr dreißig abgestürzt, also war ich um elf Uhr zweiundvierzig …
Also war ich um elf Uhr zweiundvierzig in der Hölle. Und ich habe keine Ahnung, wie spät es jetzt ist.
Ich hätte bei meiner Mutter bleiben sollen. So eilig hatte ich es nicht. Ich hätte sie ins Krankenhaus bringen sollen. Wieso hat sie nur darauf bestanden, dass ich sie verlasse? Wieso wollte sie allein bleiben? Furcht erfasst mein Herz bei dem Gedanken, dass sie womöglich schwerer verletzt ist, als sie zugeben wollte, und dass sie es nicht mehr länger vor mir verheimlichen konnte und mich deswegen weggeschickt hat. Ich sehe sie vor mir an dem Seeufer liegen, das Wasser umspült ihre Füße, und sie stirbt. Stirbt ganz allein.
Nein, nicht, weise ich mich zurecht. Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen.
All die Monate, in denen ich die Vision hatte, wieder und wieder und immer wieder, all die Monate, in denen ich versucht habe, ihren Sinn zu verstehen … und jetzt ist der Moment endlich gekommen, und ich weiß immer noch nicht, was zu tun ist oder weshalb ich es tun muss. Ich kann mich des dumpfen Gefühls nicht erwehren, dass ich schon jetzt etwas falsch mache. Dass ich mich mit Christian hätte verabreden sollen, vielleicht wäre dann etwas Wichtiges passiert, das ihn heute hierhergeführt hätte. Vielleicht habe ich längst versagt.
Das ist eine ziemlich düstere Aussicht. Ich lehne den Kopf gegen den Baumstamm, und in dem Moment klingelt mein Handy. Die angezeigte Nummer kenne ich nicht.
«Hallo?»
«Clara?», höre ich eine vertraute, besorgte Stimme.
«Wendy?»
Ich versuche, mich zusammenzureißen. Ich reibe mir das Gesicht. Es fühlt sich seltsam an, auf einmal ein ganz normales Gespräch zu führen. «Bist du zu Hause?»
«Nein», sagt sie. «Mein Flug geht am Freitag. Ich rufe wegen Tucker an. Ist er bei dir?»
Ein plötzlicher Schmerz schießt mir durch den Körper. Tucker.
«Nein», antworte ich verlegen. «Wir haben uns getrennt. Ich habe ihn seit einer Woche schon nicht mehr gesehen.»
«Das hat mir meine Mutter auch erzählt», sagt Wendy. «Aber ich habe gehofft, ihr wärt inzwischen wieder zusammen oder so, und er wäre bei dir. Er hat sich nämlich heute freigenommen.»
Ich sehe mich um. Die Luft wird schwerer. Ich kann den Rauch schon riechen. Das Feuer kommt.
«Meine Mutter hat mich angerufen, nachdem sie die Nachrichten gesehen hatte. Meine Eltern sind in Cheyenne auf einer Auktion, und sie wissen nicht, wo Tucker ist.»
«Was war in den Nachrichten?»
«Weißt du es denn nicht? Die Waldbrände?»
Also war das Feuer schon in den Nachrichten. Natürlich.
«Was sagen sie? Wie weit dehnt sich das Feuer aus?»
«Was?», fragt sie verwirrt. «Welches von den Feuern?»
«Wieso welches?»
«Es gibt zwei Waldbrände. Einen ziemlich in der Nähe, es bewegt sich schnell auf den Death Canyon zu. Und einen zweiten, drüben in Idaho, in der Nähe vom Palisades Reservoir.»
Ein kaltes, furchtbares Entsetzen ergreift mich.
«Zwei Waldbrände», wiederhole ich bestürzt.
«Ich hab zu Hause angerufen, aber Tucker war nicht da. Ich nehme an, er ist wandern gegangen. Er angelt so gern da draußen beim Death Canyon. Aber auch beim
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