Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
davon sagen? Ich sehe sie ja kaum.»
Die Sache scheint wirklich ernst zu sein. Normalerweise redet Angela wie ein Wasserfall, wenn es um Jungs geht und nichts Ernstes ist. Ich stelle sie mir mit einem dunkelhaarigen Italiener vor, sehe die beiden Hand in Hand ein enges Sträßchen in Rom entlanglaufen, sehe, wie sie sich unter Torbögen küssen. Sofort bin ich irre eifersüchtig.
«Tu einfach, worum ich dich bitte, okay?» Ganz fest drückt sie meine Hand. «Versprich mir, dass du es keinem erzählen wirst.»
«Ja, versprochen», sage ich. Ich finde sie ein kleines bisschen melodramatisch.
Mehr will sie mir darüber nicht erzählen, sie verschließt sich fester als eine Muschel. Ich helfe ihr, den Rest ihrer Sachen zu packen. Morgen in aller Herrgottsfrühe muss sie los, nach Idaho Falls, und da den allerersten Flug erwischen, also muss ich mich heute Abend schon von ihr verabschieden. Am Eingang zum Theater umarmen wir uns fest.
«Von allen werde ich dich am meisten vermissen», sage ich.
«Mach dir keine Sorgen», meint sie. «Ehe du dich versiehst, bin ich schon wieder da. Und dann habe ich ganze Waggonladungen von neuen Informationen, über denen wir brüten können.»
«Na schön.»
«Halt dich wacker.» Spielerisch stupst sie mich am Arm. «Und lern endlich fliegen.»
«Ja, mach ich», schniefe ich.
Es wird ein sehr einsamer Sommer werden.
Am nächsten Abend fahre ich nach dem Essen in den Teton-Nationalpark. Den Wagen parke ich am Jenny-See. Das ist ein kleiner, ruhiger, von Bäumen umgebener See unter den wachsamen Augen der Berge. Eine Weile stehe ich am Ufer, und die untergehende Sonne schimmert auf dem Wasser, ehe sie hinter dem Horizont versinkt. Ein weißer Pelikan gleitet über den See. Er taucht ins Wasser ein und kommt mit einem Fisch wieder hoch. Es ist herrlich hier.
Als es dunkel geworden ist, beginne ich meine Wanderung.
Die Stille ist unglaublich. Als ob es sonst keine Menschenseele auf der weiten Welt gäbe. Ich versuche, mich zu entspannen und die kalte, nach Kiefern duftende Luft tief einzuatmen, damit sie mich ganz ausfüllt. Alles aus meinem Leben soll von mir abfallen, ich will beim Aufstieg nur die Kraft meiner Muskeln auskosten. Ich klettere höher und höher, lasse die Baumgrenze hinter mir, komme dichter an den weiten, offenen Himmel heran. Ich klettere, bis mir warm ist, und dann halte ich Ausschau nach einem guten Platz zum Haltmachen. Ich entdecke einen Vorsprung an einem Berghang, von wo aus es tief nach unten geht. Auf der Karte heißt dieses Stückchen Hang Inspirationsplatz. Das klingt nach einem guten Ort für mein Experiment.
Ich klettere auf den Vorsprung und sehe nach unten. Es geht wirklich steil hinab. Ich sehe den See, der den Mond reflektiert.
«Also los, jetzt will ich es wissen», flüstere ich. Ich strecke die Arme aus. Dann lasse ich meine Flügel erscheinen und spanne sie weit. Noch einmal sehe ich nach unten. Das hätte ich besser gelassen.
Aber fliegen werde ich, und wenn es mich umbringt. Ich muss fliegen. So wie ich es in der Vision gesehen habe.
«Ich muss mich leicht machen», sage ich und reibe die Hände aneinander. «Überhaupt kein Problem. Einfach leicht machen.»
Ich hole noch einmal tief Luft. Ich denke an den Pelikan, den ich über dem See gesehen habe. An die Art, wie die Luft ihn zu tragen schien. Und noch einmal breite ich weit die Flügel aus.
Und springe.
Ich falle wie ein Stein. Die Luft peitscht mein Gesicht, saugt mir den Atem aus den Lungen, sodass ich nicht einmal schreien kann. Die Bäume greifen nach mir. Ich wappne mich gegen den Aufprall, obwohl ich keine Ahnung habe, wie genau man sich gegen einen Aufprall wappnen soll. Ich habe die ganze Sache im Grunde nicht richtig durchdacht, merke ich ein kleines bisschen zu spät. Selbst wenn mich der Sturz wundersamerweise nicht umbringt, könnte ich auf den Felsen dort unten landen und mir die Beine brechen, und keiner weiß, dass ich hier draußen bin, keiner wird mich finden.
Einfach so den Berg runterspringen, schimpfe ich mit mir. Was für eine tolle Idee, Clara!
Aber dann machen meine Flügel doch mit und öffnen sich. Ein Ruck geht durch meinen Körper, und ich fühle mich wie ein Fallschirmspringer, dessen Fallschirm endlich aufgeht. Ungeschickt wackle ich in der Luft herum und versuche, mein Gleichgewicht zu finden. Meine Flügel haben hart damit zu kämpfen, mein Gewicht zu tragen, aber sie halten mich. In einem weiten Bogen fliege ich weg vom Inspirationsplatz,
Weitere Kostenlose Bücher