Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
getragen vom Wind.
«Ich fliege», flüstere ich. Auf einmal fühle ich mich so unglaublich schwerelos, so erleichtert darüber, dass ich nicht sterben werde, ganz high vom Adrenalin und dem puren Nervenkitzel, weil ich spüre, dass die kalte Luft mich trägt, mich hochhebt. So wohl habe ich mich mein ganzes Leben noch nicht gefühlt, noch nie. «Ich fliege!»
Natürlich gleite ich mehr über die Baumwipfel, als dass ich fliege, wie ein Paraglider oder ein monströs riesiges Flughörnchen. Die Vögel hier in der Gegend müssen sich wegwerfen vor Lachen, wenn sie sehen, wie ich mich abgemüht habe, um den Sturz zu vermeiden. Ich bin definitiv kein Naturtalent, kein wunderschönes Engelwesen, das sich himmelwärts schwingt. Aber noch hat es mich nicht umgebracht, was ich als Pluspunkt werte.
Vorsichtig schlage ich mit den Flügeln, ich will versuchen, noch höher hinaufzukommen. Stattdessen rutsche ich tiefer auf die Bäume zu, bis ich mit den Füßen beinahe die höchsten Äste streife. Ich versuche, mich an irgendwas von dem zu erinnern, was ich in all den Unterrichtsstunden im Aerodynamikkurs gelernt habe, aber diesen ganzen Kram über Flugzeuge – Auftrieb, Schubkraft, Luftwiderstand – kann ich nicht zu dem in Bezug setzen, was meine Flügel gerade tun. Fliegen im wirklichen Leben ist keine mathematische Gleichung. Jedes Mal, wenn ich die Richtung ändern will, mache ich zu viel des Guten und trudele heftig in der Luft herum, wobei mein Leben wie ein Film vor meinem inneren Auge abläuft, ehe ich wieder alles unter Kontrolle habe. Das Beste, was ich fürs Erste zuwege bringe, ist, ab und zu ein wenig zu flattern und meine Flügel so auszurichten, dass sie mich in der Luft halten.
Ich komme zum See. Als ich ihn überfliege, zeigt sich mein Spiegelbild als verschwommene Reflexion von schimmerndem Weiß auf der dunklen, vom Mond zart berührten Wasseroberfläche. Einen Moment lang sehe ich mich wie den Pelikan das Wasser streifen. Ich schwinge mich hinunter und spüre die Kühle des Sees durch meine Finger gleiten. Ich tanze mit dem glitzernden Licht des Mondes. Ich lache.
Ich werde es schaffen, sage ich mir. Ich werde ihn retten.
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Der Springbaum
Es ist der 20. Juni, mein siebzehnter Geburtstag. Am Morgen wache ich in einem völlig leeren Haus auf. Meine Mutter ist die ganze Woche über in Kalifornien und arbeitet. Jeffrey hatte sich während der letzten acht Tage kaum zu Hause sehen lassen. Er hat gerade den Führerscheintest bestanden und seinen Tagesführerschein erhalten (als er erfahren hat, dass in Wyoming Fünfzehnjährige tagsüber ganz offiziell Auto fahren dürfen, war er endgültig über Kalifornien weg), und seitdem habe ich ihn kaum noch zu Gesicht bekommen – er ist viel zu beschäftigt damit, in seinem fabrikneuen Pick-up durch Jackson zu düsen, einem Geschenk vom guten alten Papa. Einziges Indiz dafür, dass Jeffrey noch lebt, ist der ständig anwachsende Stapel schmutziges Geschirr in der Spüle.
Zum ersten Mal, seit ich denken kann, wird es an meinem Geburtstag keine Party geben. Keine Torte. Keine Geschenke. Mama hat mir mein Geschenk vor der Abfahrt nach Kalifornien gegeben: ein sonnengelbes Sommerkleid, das um meine Waden raschelt, wenn ich gehe. Ich finde das Kleid toll, aber als ich jetzt in meinem Zimmer stehe und es auf dem Bügel hängen sehe, so ein zauberhaftes, perfektes Kleid für eine Geburtstagsparty oder eine Verabredung, bin ich gleich ganz traurig. Ich gehe nach unten, setze mich an die Küchentheke und kaue auf meinen Cheerios herum, was mich noch mehr deprimiert, weil keine Banane da ist, die ich in meine Frühstücksflocken schneiden könnte; dann mache ich den kleinen Küchenfernseher an und gucke die Nachrichten.
Die Reporterin erzählt gerade, dass es in diesem Jahr in Jackson Hole sehr trocken gewesen sei. Nur zwei Drittel der sonst üblichen Schneemenge sei gefallen, berichtet sie, weswegen es im Frühjahr nur wenig Schmelzwasser gegeben habe. Der Wasserstand im Reservoir sei sehr niedrig. Sie steht vor dem See und deutet auf das niedrige Wasserniveau. Man sieht ganz deutlich, bis wohin das Wasser sonst reicht, denn die Felsen haben eine hellere Farbe dort, wo sie auf den üblichen Pegelstand treffen.
«Die diesjährige Trockenheit mag im Moment noch keine große Rolle spielen», erklärt sie und schaut mit ernstem Ausdruck in die Kamera, «doch im Lauf des Sommers dörrt das Land immer mehr aus. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass
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