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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gioconda Belli
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geöffnete Hand ihm näherte. Ihre Handteller berührten sich. Sie hielten die Hände aneinander, dann die Arme und die Beine. Sie verglichen sich, suchten Ähnlichkeiten und Unterschiede. Dann führte er sie durch den Garten. Er fühlte sich nützlich, verantwortlich. Er zeigte ihr den Jaguar, den Tausendfüßler, den Waschbären, die Schildkröte. Sie lachten. Sie tollten miteinander und beobachteten, wie die Wolken über sie hinwegzogen und ihre Gestalt änderten, sie lauschten dem eintönigen Lied der Bäume und suchten Worte, um das Namenlose zu benennen. Er wusste, dass er Adam war und sie Eva. Sie wollte alles wissen.
     
    »Was tun wir hier?«, fragte sie.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wer kann uns sagen, wo wir herkommen?«
    »Der Andere.«
    »Wo ist der Andere?«
    »Ich weiß nicht, wo er ist. Ich weiß nur, dass er um uns herum ist.«
     
    Da beschloss sie, ihn suchen zu gehen. Auch sie habe sich beobachtet gefühlt, sagte sie. Sie müssten die höchsten Stellen erklimmen. Dort würden sie ihn womöglich finden. Kann es sein, dass er ein Vogel ist? Vielleicht, erwiderte er und bewunderte ihren Scharfsinn. Sie betraten einen Wald aus duftenden Sträuchern und dicht belaubten Bäumen und gelangten ohne Hast zum höchsten Vulkan. Dort hinauf stiegen sie und betrachteten vom Gipfel aus den üppigen grünen Garten, der ringsum von einem undurchdringlichen weißen Nebel umgeben war.
    »Was ist dahinter?«, fragte sie.
    »Wolken.«
    »Und hinter den Wolken?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Vielleicht wohnt er da, der uns beobachtet. Hast du mal versucht, aus dem Garten hinauszugehen?«
    »Nein. Ich weiß, dass wir den grünen Kreis nicht verlassen dürfen.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich weiß es einfach.«
    »So wie du die Namen wusstest?«
    »Ja.«
     
    Es dauerte nicht allzu lange, da hatte sie begriffen, dass der Blick, der sie beobachtete, nicht der eines Vogels war. Der Riesenvogel Phönix mit dem rotblauen Gefieder hatte nämlich über ihren Köpfen seine Kreise gezogen, und sein Blick war unbeschwert, wie bei den anderen Tieren auch.
     
    »Vielleicht ist es der Baum da«, wagte sie einen weiteren Versuch und wies zur Mitte des Gartens. »Sieh mal, Adam, schau ihn dir an. Seine Krone streift die Wolken, als würde sie mit ihnen spielen. Vielleicht wohnt er, der uns sieht, in seinem Schatten, oder wir fühlen die Blicke der Bäume auf uns ruhen. Sie sind so zahlreich und stehen überall. Vielleicht sind sie wie wir, bloß stumm und starr.«
    »Der uns beobachtet, rührt sich aber«, wandte Adam ein. »Ich habe seine Schritte im Laub gehört.«
    Gemächlich stiegen sie wieder vom Vulkan herunter und fragten sich, wie es ihnen gelingen könnte, dem Anderen zu begegnen.
    Da hob sie an, ihn zu rufen. Und er staunte über den tiefen Klagelaut, der sich aus ihrer Kehle löste und sich anhörte wie das Heulen des Windes aus einem gleichwohl flügellosen Leib. Mit ausgebreiteten Armen stand sie am Flussufer. Das dunkle Haar fiel ihr über die Schultern. Das vollkommene Profil, das entrückte Antlitz mit den geschlossenen Augen und dem halboffenen Mund, aus dem die Anrufung scholl, all das rührte Adam. Er fragte sich, ob es nicht Unsinn sei, sich jemanden vorzustellen, der ähnlich war wie sie, im Dickicht verborgen, wo ein Baum unmöglich vom anderen zu unterscheiden war. Doch beide, er und die Frau, hatten nicht nur dessen Blick gespürt, sondern vernahmen auch seine Stimme. Sie war es nämlich, die ihnen die Sprache einflüsterte, so dass sie sich immer flüssiger verständigen konnten. Sie bildeten sich sogar ein, seinen geduckten Schatten gesehen zu haben, wie er sich in den Pupillen von Hund und Katze spiegelte. Vielleicht, so überlegten sie, konnten sie ihn erst erkennen, wenn ihr Augenlicht gereift war und nicht mehr so neu.
    Noch fiel es ihnen nämlich schwer, die Bilder, die aus ihrem Inneren aufstiegen, von dem zu unterscheiden, was sie in ihrer Umgebung sahen. Besonders Eva hatte die Neigung, das eine mit dem anderen zu verwechseln. So versicherte sie glaubhaft, einen Vierbeiner mit menschlichem Oberkörper, fliegende Eidechsen und Wassernixen erblickt zu haben, und das nicht nur einmal. Seit sie an seiner Seite war, hatte sie noch keinen Augenblick stillgehalten. Es schien, als hätte sie ein Vorhaben mit ins Leben gebracht, das ohne ihr Zutun die weichen Bewegungen ihrer langen Gliedmaßen anstieß. Fortwährend flatterte sie an Adams Seite, bog und wiegte sich wie eine Palme im Wind. Ihre pausenlose

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