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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gioconda Belli
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Lebensbaumes ist?«
    »Vermutlich.«
    »Aber wenn wir sein Spiegelbild sind, dann kann die Schlange das nicht auch sein. Dafür ist sie uns zu unähnlich.«
    »Könnte es sein, dass auch wir ein Spiegelbild haben?«
    »Keine Ahnung, Eva. Du stellst vielleicht Fragen. Ich habe darauf keine Antwort. Ich gehe jetzt weiter nach dem Anderen suchen. Bleib du hier. Aber sprich nicht mehr mit der Schlange. Und beruhige dich. Du bist ja ganz aufgeregt.«
     
    Sie ging ans Ufer, und ihre Füße trugen sie flussabwärts. Das Wasser des Flusses war glasklar, zwischen den Steinen sah man Fischschuppen in vielen Farben glitzern. Ein großer roter Fisch mit einem schwarz-weiß gefleckten Maul schwamm entschlossen auf eine Biegung zu, wo sich das Wasser in einem kleinen Becken gestaut hatte und die Wasseroberfläche ganz still war. Sie folgte ihm, kletterte auf einen dunklen Stein, der aus dem Teich aufragte, und ließ sich nieder, um den Fisch zu beobachten.
    Anmutig tauchte er in die Tiefe, ohne das friedliche Wasser aufzurühren. Mit einem Mal stiegen aus dem Grund Blasen auf, und ein von nirgendwo erschienenes Auge öffnete sein Lid, schaute Eva an und gestattete ihr, durch seine zitternde Linse faszinierende, schwindelerregende Bilder zu schauen: von ihr selbst, als sie in die Baumfeige biss, ein winziges Ereignis, dem eine riesige Spirale sterblicher Schatten folgte, Menschen, die sich vermehrten und sich über großartige Landschaften ausbreiteten, Männer und Frauen, in deren Gesichtern zahllose Stimmungen und Gefühle aufflackerten und deren Haut gleichsam ein Spiegel war von allem, dem dunklen Glanz feuchter Baumstämme ebenso wie dem bleichen Blütenblatt eines Rhododendrons. Sie waren umgeben von vielfältigsten Formen namenloser Dinge, die wurden und vergingen. Ruhig und selbstsicher bewegten sie sich zwischen diesen, mal forschend, mal einfach neugierig dem Sog ungezählter Visionen folgend, die sich verzweigten und in die Tiefen griffen, wo immer neue Schichten unverständlicher Symbole aufbrachen und inmitten wirrer Klänge und Harmonien von den Sterblichen heftig umkämpft wurden, indes ihr Echo in Evas Innern widerhallte wie etwas, was sie kannte, ohne es zu kennen. Im rasenden Wirbel der aufeinanderfolgenden Zyklen sah sie die verirrten Wesen im Verborgenen brennen und sich verbiegen, sah sie stets aufs Neue entsetzliche Kriege beginnen und führen. Unaufhörlich veränderten sich die Gesichter, während sich das gestikulierende Menschengewimmel wie ein unerschöpflicher Strom über Landschaften und Städte ergoss, dabei Emotionen zeigte, die auf der nassen Projektionsfläche Blasen warfen und nach oben trieben und in denen Eva den gleichen Wunsch nach Erkenntnis wahrnahm, der sie selbst verzehrte, dazu tiefe Sehnsüchte und Verwirrungen, die sie nicht zu benennen vermochte.
    Der Anblick dieses mächtigen, geradezu besessenen Aufruhrs sowie all der unbekannten Orte und die Resonanz ihres Blutes auf dieses verletzliche Gemeinschaftsschicksal, all das weckte eine unendliche Zärtlichkeit in ihr und ein Begehren, das tiefer war als alles, was sie zuvor empfunden hatte. Als zum Schluss, nachdem sich das Wasser wieder geglättet hatte, selten klar und friedlich ein letztes Bild auftauchte, wusste sie nicht, ob sie das war, die wieder im Garten zu sich kam, oder ob das letzte Mysterium des Geschauten darin lag, zum Anfang zurückzukehren.
     
    Die Geschichte, sagte Eva zu sich selbst. Sie hatte die Geschichte gesehen. Das war es, was seinen Ausgang nehmen würde, wenn sie die Frucht aß. Elohim wollte, dass sie ihm die Entscheidung abnahm, ob all das ins Sein gerufen würde oder nicht. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein. Er wollte, dass sie die Verantwortung übernahm.

Kapitel 3
    S ie lief Adam suchen. Sie fand ihn nicht auf der großen Wiese, wo er sonst dem Hund beibrachte, auf ihn zu hören und seine Gedanken zu lesen. Sie fand ihn nicht im Wald und auch nicht bei ihrer Rückkehr zum Flussufer. Erschöpft hielt sie inne und ließ sich ins Gras fallen. Voller Wehmut betrachtete sie ihre Umgebung, als wäre sie eine Erinnerung. Sie sah das Grün, das Wasser, die blauen Berge.
    Was war der Unterschied zwischen den Bildern, die sie im Wasser gesehen hatte, und jenen, die sich ihr zeigten, wenn sie alleine durch die entlegenen Winkel des Gartens wanderte, ohne dass sich Adams Schritte zwischen sie und ihre Vorstellungskraft drängten? Adam nannte sie Visionen: die Fabelwesen, die sie in den dicht bewachsenen

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