Unerwartet (German Edition)
ihn dann natürlich betreut. Aber genau genommen bin ich diejenige, die ihn großgezogen hat.“
„Und dann? Wo war dein Vater in diesem Bild?“
„Meistens geistig abwesend und sehr betrunken. Ich kann ihm nur zugute halten, dass er uns in der ganzen Zeit nicht mit irgendwelchen besoffenen Eskapaden belastet hat. Er war körperlich anwesend, aber nicht für uns da.“
Jakob streichelt mir beruhigend über den Rücken, doch ich wünschte, er würde es nicht tun. Das macht es nur schwerer, die Tränen zurückzuhalten.
„Das ist mehr Verantwortung, als man in diesem Alter tragen sollte.“
„Hätte ich Ben hängen lassen sollen? Er konnte doch nichts dafür.“
„Natürlich nicht. Gab es denn sonst keine Verwandten mehr, die dich unterstützt hätten.“
„Es gibt noch ein paar Tanten und Onkel, aber die waren alle schon zu alt, um eine Hilfe sein zu können. Steffi und Matthias haben mir allerdings immer sehr geholfen, und tun es jetzt noch. Ohne die beiden wäre ich aufgeschmissen gewesen.“
„Du musst mir darauf nicht antworten, Katharina. Aber wie ist dein Vater gestorben?“
„Willst du das wirklich wissen? Ich dachte, dass hier würde nur ein bisschen Spaß zwischen uns beiden. Du weißt, dass ich keine Zeit für eine Beziehung habe. Deswegen musst du dir diesen ernsten Kram nicht antun.“
„Schwachsinn.“
Er nimmt mein Kinn und dreht meinen Kopf, damit ich ihn ansehe.
„Ich weiß nicht, was das hier ist. Aber ich würde es gerne rausfinden. Zeitmangel ist nur eine schlechte Ausrede. Ich bin zu alt für Spielchen und ich habe kein Interesse an einer losen Affäre.“
Es könnte so einfach sein, sich in seiner offenen und ehrlichen Art zu verlieren.
„Was willst du hören, Jakob? Noch mehr Verantwortung in Form einer Beziehung verkrafte ich nicht. Ich hab es ein paar Mal versucht, aber es ist einfach zuviel.“
„Wenn du eine Beziehung als Belastung betrachtest, Katharina, dann hattest du nie die richtigen Männer. Ich brauche keine Frau, die mir die Wäsche macht oder essen kocht. Das kann ich sehr gut alleine. Was mir fehlt, ist jemand, bei dem ich mich nach einem stressigen Tag einfach fallen lassen kann. Natürlich lädt man dann auch mal seinen Ballast ab, aber solange das auf Gegenseitigkeit beruht, ist das doch etwas Gutes. Ich will nur hören, dass du der Sache hier eine Chance gibst.“
Auch wenn es nicht meine Schuld ist, kann ihn nicht ansehen, wenn ich das ausspreche, denn ich schäme mich dafür.
„Mein Vater hat sich am Tag der Beerdigung meiner Mutter umgebracht.“
Jakob sagt nichts und ich kann mich nicht dazu überwinden, den ersten Schritt zu machen. Die Stille wird für mich schnell unerträglich und für einen Moment erwäge ich die Möglichkeit, einfach zu gehen und ihm die mitleidigen Kommentare zu ersparen. Stattdessen bricht es einfach aus mir heraus. Die Horrorgeschichte, die damals die ganze Nachbarschaft mitbekommen hat.
„Er ist an dem Tag einfach verschwunden, aber es war nicht das erste Mal, dass er für einen Tag oder auch zwei abgehauen ist. Ich habe gedacht, dass er einfach ein bisschen Zeit braucht, um Mamas Tod zu verarbeiten. Nach drei Tagen habe ich eine Vermisstenanzeige erstattet.“
Bevor ich weiter reden kann, nehme ich mein Weinglas vom Tisch und leere es in einem Zug.
„Am selben Abend bin ich in den Keller gegangen. Ich weiß selbst nicht mehr, warum.“
Jakob nimmt meine Hand.
„Du musst nicht weiter reden, Katharina.“
Doch, das muss ich. Jetzt kann ich nicht mehr zurück.
„Er hat sich in unserem Kellerabteil aufgehängt und hing da schon seit drei Tagen. Ich bin so froh, dass Ben es nicht gesehen hat, auch wenn er noch klein war und sich vielleicht nicht mehr erinnern könnte.“
Leider kann ich es immer noch, als wäre es gestern passiert. Jakob zeigt genug Feingefühl, um nicht weiter auf das Thema einzugehen. Für eine Weile fragt er mich noch darüber aus, wie ich das Leben alleine mit meinem Bruder organisiert habe, doch den Selbstmord meines Vaters spricht er glücklicherweise nicht mehr an.
Später ziehen wir uns mit einem Fotoalbum seiner Tochter auf die Terrasse zurück, die er inzwischen mit Korbmöbeln und ein paar Kübelpflanzen bestückt hat.
„Erzähl mir von ihr!“
Bei meiner Forderung hellt sein ganzes Gesicht auf.
„Sie ist alles für mich.“
„Darf ich?“ Behutsam nehme ich das Album, um die erste Seite aufzuschlagen.
Jakob nickt mir zu und erzählt mir von der Liebe seines
Weitere Kostenlose Bücher