Unfassbar für uns alle
erhebliche Expansion des Unternehmens...»
Jetzt platzte Zinna der Kragen. «Verdammt noch mal, dem Bund und der Treuhand gehört doch das alles gar nicht, weder die Fabrik noch die 115 Hektar Land drumherum. Das alles war Eigentum des Grafen Friedrich Wilhelm v. Woerzke. Der aber ist 1944 gestorben, sein Sohn Waldemar 1946 – und es gibt keinen Erben. Woerzke wäre als Nazi-Führer und Kriegsverbrecher sowieso enteignet worden...»
«Das wäre erst noch zu klären!» rief Schwermer. «Das hat noch kein Gericht feststellen können.»
Zinna schlug mit der Faust auf den Tisch. «Fabrik und Land sind auf jeden Fall Volkseigentum!»
«Und dürfen deshalb verrotten!» höhnte jemand in der ersten Reihe.
Heike beugte sich zu mir herüber. «Ich hasse sie beide: diesen SED-Menschen mit seiner Stasi-Biederkeit ebenso wie diesen Schwermer, diesen Nawrocki-Verschnitt.»
«Nawrocki, wer is’n das?» fragte ein nicht mehr ganz so junger Landwirt aus Friedrichsheide, der neben uns saß, ein sogenannter «Wiedereinrichter», wie er uns vorher schon erklärt hatte.
«Axel Nawrocki, der große loser der Berliner Olympiabewerbung, der als Lohn für seinen grandiosen Mißerfolg – nur neun Stimmen für Berlin – noch Zehntausende von Mark an Abfindung verlangt und Chef der Berliner S-Bahn wird, als einzige Kompetenz dafür die Nähe zur CDU... und die einzigartige Gabe zum Abzocken.»
Volker Vogeley lachte. «Früher in Japan hätten solche Leute wenigstens noch Harakiri begangen oder – in China – sich die Seidene Schnur kommen lassen...»
«Pssst!»
Es hatte schon die ganze Zeit in meinen Gedärmen rumort, und ich nutzte nun die Gelegenheit, aufzustehen und auf die Toilette zu gehen.
«Was is’n?» fragte Heike.
Sie bekam einen Standardsatz meines kauzigen Vaters zu hören.
«Der Morgenschiß, der kommt gewiß, und wenn es spät am Abend ist.»
Und als hätte ihn eben dieses angelockt, traf ich im Waschraum mit einem der größten Schmutzfinken Deutschlands zusammen, dem sogenannten «Großinquisitor». Das war der neue Showstar des TV-Senders ENTER-EINS (‹Die Nummer Eins des Entertainments in Deutschland!›). Seine Kandidaten saßen in einer Art elektrischer Stuhl auf der Bühne, über sich ein Damoklesschwert, und wurden mit den größten sittlichen und anderen Verfehlungen ihres Lebens konfrontiert. Wo sie gefeuert und verprügelt worden waren, sich in die Hosen gemacht und beim Sex versagt hatten – und so weiter und so weiter. Sie wurden vorgeführt, lächerlich gemacht und unflätig beschimpft. Wenn sie dies alles eine halbe Stunde lang durchhielten, hatten sie 500000 DM gewonnen, eine halbe Million. Die Einschaltquoten waren riesig, die Werbung brachte alles wieder rein. Außerdem war die Summe nur ganz selten auszuzahlen. Acht von zehn Kandidaten hatten bislang bei ‹ENTER-EINS -Elektrischer Stuhl› vor dem Schlußgong aufgegeben, dem Großinquisitor war keiner bzw. kaum einer gewachsen.
Der war nun abgestiegen im Schloßhotel zu Friedrichsheide, und ich lächelte ihm huldigend zu, bevor ich wieder in den großen Konferenzraum ging.
Schweriner war gerade am Zuge. «Die Havelland-Invest fordert die Treuhand hiermit noch einmal in aller Öffentlichkeit dazu auf, den Kaufvertrag mit uns endlich zu unterzeichnen und damit der Region nördlich von Oranienburg eine Zukunft zu geben.»
«Blühende Landschaften, ha-ha-ha!» Der «Wiedereinrichter» neben uns ballte die Faust.
«Und ich verweise die Treuhand noch einmal auf den Beschluß des Gemeinderates, der mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/ Grüne und PDS gefaßt worden ist: Stillegung der F. F. Runge-Chemie und Umwandlung in ein Chemie-Museum und eine Außenstelle der (Nationalen Gedenkstätte Sachsenhausen) – schließlich haben sich hier Tausende von KZ-Häftlingen zu Tode schuften müssen. Von den 4800 Hektar des ehemaligen Woerzke-Landes ringsum sollen rund 2600 Hektar weiterhin von den Bauern der Agrar GmbH & Co. KG Friedrichsheide bewirtschaftet werden, der Rest wird umgestaltet zum Freizeit- und Erholungspark Oberhavel. Das schafft und sichert dauerhaft an die zweihundert Arbeitsplätze.»
Der Treuhand-Vertreter nickte Harry Zinna zu. Es bestand kein Zweifel mehr, auf wessen Seite sich die Waage neigen würde.
In diesem Augenblick trat sowohl mein Pieper als auch der des Kollegen Volker Vogeley in Tätigkeit. Wir sprangen auf. Das konnte nichts anderes heißen, als daß es in Oranienburg wieder einmal ein Tötungsdelikt gegeben
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