Ungeheuer
hinterlassen. Er besaß ein Nummernkonto in der Schweiz. Falsche Ausweispapiere waren in einem Schließfach deponiert. Es würde kein Problem sein, die Grenze zu passieren, wenn er ein paar Umwege in Kauf nahm. Den Ford konnte er zurücklassen, ihm lag nichts an diesem Auto.
Ihm lag auch nichts an Mutters Haus, den immer wieder aufkeimenden Erinnerungen an seine Kindheit. Schon beim Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit war er sich im Klaren gewesen, dass er all dies notfalls würde aufgeben müssen. Und nun war es so weit.
Sein Körper fühlte sich leicht und beschwingt, der Geist war frei wie ein Vogel.
Lebwohl, Martin Mühlmann, Muttermörder. Drei Alliterationen hintereinander. M-M-M. Friede deiner Asche. Das, was du verkörpert hast, war mir noch nie sympathisch. Doctor Nex zwinkerte sich selbst im Rückspiegel zu und bog dann auf den Schotterweg ein. Kurz vor halb elf.
Der gute Doctor musste sich jetzt ein wenig um Lara Birkenfeld kümmern. Vielleicht würde er sich zur Erinnerung an seine letzte deutsche »Freundin« ein Andenken an sie mitnehmen, aber nur etwas Kleines, Unauffälliges. Sein Kichern hallte durch den Innenraum des Ford, als er bremste und anhielt.
Leises Motorsummen. Zwei grellweiße Lichtsäulen leuchteten durch Bretterspalten. Schritte tappten. Jemand brummte.
Dann das Knirschen eines Schlüssels, gedämpftes Quietschen. Holz schabte über Stein.
Laras Augen öffneten sich mit einem Ruck. Zuerst sah sie nichts, dann erschienen Umrisse. Unebenheiten vor ihrem Gesicht wirkten in der Finsternis wie tiefe Krater. In Wirklichkeit waren sie nur wenige Millimeter hoch. In Laras Körper wurden die Maschinen angeworfen. Das Herz hatte wie wild zu pumpen begonnen, der Puls raste. Während sie noch versuchte, etwas zu erkennen, registrierte sie, dass ihr Körper auf der Seite lag, das Gesicht auf dem Boden. Kleine Steinchen hatten sich in ihre rechte Wange gebohrt. Sie versuchte, den Kopf zu heben, aber ihr Hals war steif. Jetzt erinnerte sie sich an alles. Der Rollstuhl war umgekippt. Sie musste für ein paar Sekunden – oder waren es Minuten, Stunden? – eingenickt sein. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war die Anhängerkupplung des Traktors. Der Metallstift baumelte noch immer vor ihrer Nase, zwanzig Zentimeter entfernt. Und ihre rechte Hand war noch immer unter dem Rad eingeklemmt.
Die Schritte kamen langsam näher. Lara spannte alle Muskeln an und versuchte mit aller Macht, die Finger unter dem Rollstuhl hervorzuziehen. En Schnappen. Glühender Schmerz versengte die Haut. Aber die Hand war frei.
Der Wahnsinnige war fast bei ihr angekommen. Mit zusammengebissenen Zähnen tastete Lara nach dem langen Stab und zerrte ruckartig daran, während unentwegt Tränen über ihr Gesicht rollten. Mit einem scharfen Ruck riss die Kette, und Laras Hand prallte mit der kostbaren Beute auf den Lehmboden. Schnell zog sie den Metallstift an sich, befühlte ihn wie ein teures Juwel und schob den Stab dann hastig an der Hüftseite unter die Hose. Die Spitze schrammte am Oberschenkel abwärts, das breitere Endstück hing mit der Öse fest im Bund der Jeans. Im gleichen Augenblick fuhr der Strahl
einer Taschenlampe über ihren Körper. Das Licht machte sie für ein paar Sekunden blind. Dann lachte der Mann. »Was hast du denn angestellt? Wolltest ein bisschen fahren und bist umgekippt?« Er kicherte noch immer, und Lara spürte den Zorn zurückkommen.
»Kleines Dummchen! Dann wollen wir dich mal aufheben.« Er legte die Taschenlampe auf den Radkasten des Traktors. Lara drückte ihre Hand wieder unter den nun gänzlich verdrehten Ring aus Paketband und schüttelte den Ärmel so weit wie möglich über den Unterarm. Der Wahnsinnige durfte keinen Verdacht schöpfen. Sie musste warten und die Lage gut einschätzen. Den Metallstab als Waffe gegen ihren Peiniger einzusetzen, würde ihren gesamten Einfallsreichtum erfordern. Mit einem Ächzen kippte der Mann den Rollstuhl wieder in eine aufrechte Position und schob ihn vom Auto weg in die Mitte des Raumes.
»Wo bin ich?« Lara räusperte sich und hustete dann.
»Du bist mit mir zusammen, das muss als Antwort reichen.« Der Mann nahm die Taschenlampe vom Radkasten, leuchtete kurz in ihr Gesicht und grinste dann. Seine Eckzähne schimmerten fahl. »Ich habe den Artikel abgeschickt. Hoffen wir beide, dass er morgen erscheint.« Er wandte sich ab und ging zu einer Tasche, die er in der Nähe des Eingangs abgestellt hatte. Lara versuchte, Einzelheiten im
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