Ungeheuer
impulsives Verhalten in mehreren Bereichen, zum Beispiel in der Sexualität, nehmen Drogen – dazu gehört auch Alkohol – oder weisen Essstörungen auf. Kommst du mit?«
»Ja, geht schon.« Die ältere Dame auf der gegenüberliegenden Sitzbank schien die Ohren zu spitzen, und Lara sprach etwas leiser, während sie ihre Notizen überflog. »Was du gesagt hast, könnte passen.«
»Eine Ferndiagnose ist immer schwierig. Wurde die Mutter des toten Jungen denn begutachtet?«
»Das kam noch nicht zur Sprache.« Lara presste das Handy fester ans Ohr und sah hinaus.
»Vielleicht kannst du vom Gutachter Informationen erhalten.
Meine Vermutungen stützen sich ja lediglich auf deine Angaben.«
»Das könnte ich versuchen. Kann ich dich später noch einmal anrufen? Ich bin gleich da.« Lara erhob sich. Die Bahn bremste abrupt, und sie wäre fast auf ihrem Vordermann gelandet.
»Gern. Nimm meine Handynummer. Ich bin bis nach sieben in der Praxis.« Mark mochte es nicht, wenn Lara ihn zu Hause anrief. Seine Frau war chronisch eifersüchtig, obwohl sie keinen Grund dazu hatte.
Der Rechtsmediziner wurde aufgerufen.
Während des üblichen Vorgeplänkels notierte sich Lara, dass sie in ihrer nächsten schriftlichen Anfrage an den Pressesprecher des Gerichts eine Kopie der gerichtsmedizinischen Untersuchung anfordern wollte; auch wenn fraglich war, ob sie selbige erhielt. Aber man musste es wenigstens versuchen. Dann betrachtete sie den Mann, der den kleinen Dennis seziert hatte.
Sein Gesicht war kantig. Die Nase lang, Kiefer und Kinn mächtig. Er sah ein bisschen aus wie ein handgeschnitzter Nussknacker. Im Sitzen wirkte der Mann nicht so riesig, aber sie hatte ihn vorhin auf dem Gang gesehen. Er war nicht ganz aufrecht gegangen, und der gekrümmte Rücken hatte bei ihr sofort das Bild einer über einen Seziertisch gebeugten Gestalt hervorgerufen. Als er mit seinem Vortrag begann, staunte Lara: Für seine Größe hatte der Pathologe eine erstaunlich hohe Stimme.
Ihr Stift flog über das Papier. Lara versuchte gar nicht erst, den genauen Wortlaut mitzuschreiben, sondern notierte sich lediglich Stichpunkte. Sie konnte die Formulierungen später rekonstruieren oder mit eigenen Worten wiedergeben.
Die Zeitungsleser mochten den klinischen Stil, in dem es von Fachbegriffen nur so wimmelte, sowieso nicht. Das lapidare Notieren der Fakten lenkte ein bisschen vom Leid des Kindes ab, aber ab und zu kamen bei den Ausführungen Bilder eines kleinen, ausgezehrten Kinderkörpers hoch, die schwer zu ertragen waren. Der dreijährige Dennis war stark untergewichtig und erheblich dehydriert gewesen. Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung hatte der Gerichtsmediziner nicht gefunden.
Was nichts bedeuten musste. Laras Blick schweifte zur Mutter. Die verzog keine Miene. Ihre Augen waren nach vorn gerichtet, die Hände hatte sie mit den Handflächen nach unten brav nebeneinander auf die Tischplatte gelegt. Sie wirkte wie ausgestopft. Ihr Anwalt hörte dem Rechtsmediziner mit versteinertem Gesicht zu. Es würde schwer werden, dieser Frau mildernde Umstände zuzugestehen, egal, was die Verteidigung vorbrachte. Am liebsten hätte Lara die Frau an den Schultern gepackt und durchgeschüttelt, bis sie aus ihrer Betäubung erwachte; ihr ins Gesicht geschrien: Dein Kind ist tot, und du hast es verhungern lassen!
Der Rechtsmediziner war fertig. Während er sich aus dem Zeugenstand erhob und zur Tür ging, atmete Lara ein paar Mal tief durch und versuchte, die Ruhe wiederzugewinnen. Der Richter verkündete eine Pause, und im gleichen Augenblick erwachte der Gerichtssaal zum Leben, Stimmen flüsterten, Papier raschelte, Sitzbänke knarrten.
»Kommen Sie mit, einen Kaffee trinken?« Frank Schweizer, der Kollege von der Tagespost, hatte sich neben Lara erhoben und sortierte seine Unterlagen.
»Gern. In fünf Minuten am Haupteingang?«
Er nickte, und Lara machte sich auf den Weg zur Toilette. In ihrem Kopf pochte schon wieder die Armada fleißiger Handwerker.
Weil in der Cafeteria des Gerichts alle Plätze besetzt waren, stellten sich Lara und ihr Kollege an eines der riesigen Fenster.
»Was glauben Sie, wie lange das heute noch gehen wird?«
»Ich hoffe, nicht mehr ewig.« Lara sah auf ihre Armbanduhr. »Sonst sitze ich wieder bis in die Puppen, um den Artikel fertig zu kriegen.«
»Wem sagen Sie das. Na so was, wer kommt denn da?« Frank Schweizer deutete mit dem Kinn in Richtung Eingangshalle. »Unser Freund, ›KK‹ Stiller.« Es klang
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