Ungeheuer
Band zu legen, die Zeitung zuletzt. Als Laras Blick auf die oberste Schlagzeile fiel, begann es, in ihrem Kopf zu summen. Dann dehnte sich ihr Schädel aus und zog sich wieder zusammen. Enger und enger.
VERMISSTE FRAU AUS NEUSTRELITZ
TOT AUFGEFUNDEN!
Blut dröhnte trommelnd durch ihre Adern. En Eisenreif schloss sich unnachgiebig um ihre Stirn. Die Überschrift verschwand mitsamt der Zeitung im Einkaufswagen des Mannes. Das Hawaiihemd entfernte sich.
»Ist Ihnen nicht gut?« Die Kassiererin lächelte. Ihre Zähne waren gelb.
»Nein, nein. Alles in Ordnung.« Lara griff nach einer Mittagspost und warf sie auf das Band, während sie versuchte, tief ein- und auszuatmen. Bloß kein Aufsehen erregen.
Vermisste Frau aus Neustrelitz tot aufgefunden!
Nackte Leiche verstümmelt und ausgeweidet!
Die seit Samstag vermisste – …
»Achtzehn Euro dreißig, bitte. Hallo?«
»Oh, Entschuldigung.« Lara zwang ihre Augen nach oben, zog das Portemonnaie aus der Hosentasche und zahlte. Dann packte sie ihre Waren hastig in die große Tüte und flüchtete auf den Parkplatz.
Die Luft im Auto war heiß und roch nach altem Plastik. Mit zitternden Fingern versuchte Lara, den Zündschlüssel ins Schloss zu rammen. Endlich begann der Motor zu summen. Kühle Luft strömte aus der Klimaanlage und trocknete den Feuchtigkeitsfilm auf ihrer Stirn. Sie lehnte den Kopf an die Nackenstütze und atmete aus.
Nach einem Moment der Besinnung schielte sie zum Beifahrersitz hinüber. Höhnisch flackerten die fetten schwarzen Buchstaben. Es wurde Zeit nachzusehen, ob ihre innere Stimme recht hatte.
Die seit Samstag vermisste Sandra Gerber aus Neustrelitz wurde gestern in einem Waldstück bei Wesenberg, unweit ihres Wohnortes, von Spaziergängern gefunden. Die Leiche war nackt. Laut Aussagen der drei Campingurlauber, die sie entdeckten, war sie schwer verstümmelt. Der Bauch
sei von oben nach unten aufgeschlitzt gewesen. Anscheinend hat der Täter Organe herausgeschnitten und mitgenommen. »Am schlimmsten waren der Geruch und die Fliegen«, sagte eine der Urlauberinnen.
Sandra Gerber wurde am Freitag, dem 24. Juni, am Nachmittag zuletzt gesehen. Sie war tagsüber mit einer Freundin in Neubrandenburg gewesen. Ihre Bekannte setzte sie gegen 16 Uhr an ihrem Haus in Neustrelitz ab. Seitdem wurde sie nicht mehr gesichtet. Ihr Freund meldete sie am Tag darauf als vermisst. Kleidung und Schmuck des Opfers sind bis jetzt verschwunden. Die Polizei bittet um Hinweise. Die Informationen werden auf Wunsch vertraulich behandelt.
Lara legte die Zeitung auf den Beifahrersitz. Dann schloss sie die Augen.
Eine Frau stakte durch den grauschwarzen Wald. Die Arme zitternd nach vorn gestreckt … Die Frau strauchelte, fiel auf weich federnden Boden … Etwas umschnürte den Hals der Frau, zog sich immer fester zusammen …
Lara öffnete die Augen wieder und sah auf den Parkplatz hinaus. Grell blendete das Sonnenlicht. In dem Augenblick, als die Frau in ihrem Traum das Gefühl gehabt hatte, ersticken zu müssen, war sie aufgewacht.
Sie stellte die Klimaanlage noch etwas kälter ein. Wann hatte sie von der Menschenjagd durch den Wald geträumt? Es war höchstens ein paar Tage her. Vergangenes Wochenende? Ihr Blick schweifte zurück zur Überschrift der Zeitung. Heute war Montag. Letzten Freitag hatte man die Frau zuletzt lebend gesehen.
War die vermaledeite »Gabe« zurückgekehrt? Seit Jahren
hatte Lara keine Dinge mehr »gesehen«, und sie war froh darüber gewesen. Die Fähigkeit, etwas wahrnehmen zu können, was sich erst noch ereignen würde, war ein Fluch. Man wusste nie, wann und wie es geschehen würde. Jemand, der diese Gabe besaß, konnte somit niemanden warnen oder Geschehnisse vereiteln. Und – das, was einem gezeigt wurde, war fast immer nachteilig.
Auch wenn es nicht in der Zeitung gestanden hatte, das Opfer war vor seinem Tod vom Mörder durch den Wald gehetzt worden. Lara wusste es. Sie hatte das Moos unter den Füßen gespürt, den Nachtvogel schreien gehört. Ihr Hals erinnerte sich noch immer an die enger werdende Fessel, die Luftnot, den unnachgiebigen Zug.
Unbarmherzig fächelte die Luft aus den Düsen über Laras Oberarme. Draußen war Sommer. Die Menschen waren in Urlaubslaune. Es roch nach Sonnencreme und Heu. En Kind lachte. Während sie sich anschnallte und losfuhr, betete sie, dass die Ahnungen nicht wiederkehren mochten.
Der Mann senkte den rechten Fuß fester auf das Gaspedal und angelte nach seiner Sonnenbrille. Leise
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