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Ungeheuer

Ungeheuer

Titel: Ungeheuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Puhlfürst
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schnurrte der Motor. Die ersten beiden Arztpraxen waren abgehakt. Der nächste Besuch würde nicht so reibungslos ablaufen. Er kannte den Kollegen schon seit Jahren, und es war ein schwieriger Mann. Man musste ihm unentwegt Honig ums Maul schmieren, damit er die vorgestellten Medikamente empfahl und verschrieb, und kaum war man weg, ließ er sich vom Nächsten zum Gegenteil bekehren.
    Die Straße vollführte einen weitgeschwungenen Bogen auf ein Waldstück zu. Kräftige, hochgewachsene Kiefern. Der Mann griff nach dem Bügel der Sonnenbrille und legte sie auf
den Beifahrersitz, als das Tageslicht weniger wurde. Er liebte den Wald.
    Auf dem Bildschirm des Navigationsgeräts sah der grüne Fleck ziemlich groß aus. Die Fahrtroute mäanderte als dicker weißer Strich mitten hindurch. Weiter vorn zweigte eine geschlängelte braune Linie ab. Eine Seitenstraße oder ein Waldweg. Er nahm den Fuß vom Gas und hielt Ausschau. Die braune Linie auf dem Display rückte näher. Er blinkte rechts und bog ab. Die Räder holperten über Wurzeln und Steine, rollten aus, der Wagen hielt. En weiterer Blick auf den Bildschirm. Die geschlängelte Linie endete mitten im Grün. Anscheinend führte dieser Weg ins Nirgendwo. Zeit für einen kleinen Erkundungsgang. Der zickige Doktor konnte warten.
    Den Blick geradeaus gerichtet, schlenderte der Mann vorwärts. Bei jedem Schritt federte der Boden unter den Füßen. Sonnenstrahlen irrlichterten wie goldene Leuchtlinien durch das Geäst. In der Luft lag ein feines Summen. Würziger Nadelduft schwebte unsichtbar über dem Weg. Im Tageslicht wirkte ein Waldstück immer ganz anders: friedvoll, ruhig, so gänzlich ungefährlich. Man verlief sich auch nicht so schnell. Nachts war es problematischer, einen eingeschlagenen Weg zurückzuverfolgen.
    Er dachte über den diffizilen Rückweg neulich nach. Im fiebrigen Verfolgen der Jagdbeute war ihm die Orientierung völlig verloren gegangen, und er hatte lange nach dem richtigen Rückweg suchen müssen. Das war zwar kein Problem gewesen, weil niemand ihn verfolgte und kein Zeitdruck bestand. Für die Zukunft jedoch würde sich Doctor Nex etwas Besseres einfallen lassen müssen. Es gab inzwischen mobile GPS-Empfänger mit Navigationssoftware, auch kombiniert mit Handys. Man konnte Standorte speichern und sich später
wieder dorthin führen lassen. Der Mann grinste. Das würde die Lösung für sein Problem sein.
    Der Weg wurde schmaler. Über ihm schimpfte ein Eichelhäher. Die hochstämmigen Kiefern waren dichtstehenden Fichten gewichen. Bemooste Äste streckten ihre Finger nach seinen Schultern aus, kratzten am Stoff. Er rieb sich die Oberarme. Nur vereinzelt drangen noch Sonnenstrahlen durch die Kronen der Nadelbäume. Schnüffelnd sog der Mann die Luft ein. Feuchtkühl und ein bisschen modrig. En sehr schöner Forst.
    Den Blick starr nach vorn gerichtet, tappten seine Füße langsam vorwärts. Er sah eine verschwommene Gestalt durch den Wald taumeln. Ihr nackter Körper reflektierte das weiße Mondlicht. Silbrig schnellten blonde Haare unruhig auf und ab. Sein Herzschlag beschleunigte sich, die Luft wurde knapp. Der Mann blieb stehen und schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund. Vor letztem Freitag hatte er gedacht, dass ihm die Arbeit mit den Trophäen – das Zerteilen, Konservieren, Zusammenfügen  – das größte Vergnügen bereiten würde. Jetzt war er sich dessen nicht mehr sicher. Die Jagd auf eine ahnungslose, wehrlose Beute war nicht nur Vorbereitung auf das eigentliche Ereignis gewesen, sondern ebenso ein Genuss wie die spätere Entnahme der Teile und deren Behandlung und Umgestaltung. Auch wenn die Trophäen das eigentliche Ziel seiner Jagd waren.
    Kurz blitzten Hautstücke und rotbraunes Muskelfleisch in rosafarbener Flüssigkeit vor seinem inneren Auge auf, dann wurde der Drang weiterzumachen, die begonnene Arbeit fortzusetzen, schier übermächtig. Doctor Nex wollte nicht aus Sicherheitsgründen Monate warten, um die nächsten Objekte zu erlangen. Am liebsten hätte er sofort an seinem Werk weitergearbeitet.

    Aber eigentlich war genau das kein Problem. Warum abwarten, bis Gras über die letzte Sache – er scheute sich, das Wort »Mord« dafür zu verwenden – gewachsen war. Er fuhr im Dienst große Strecken, kam durch verschiedene Bundesländer, lernte wunderbare Landstriche und interessante Menschen kennen. Wer weiß, wohin sein Reiseplan ihn am Donnerstag und Freitag verschlug. Er konnte vorab schon eine geeignete Gegend –

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