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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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passiert?«
    »Ich habe ihn heute Morgen im Korridor gesehen. Er sah so aus wie immer. Als wäre nichts geschehen. So etwas rinnt von ihm ab wie Wasser von einer Gans. Wahrscheinlich hat er es schon vergessen.«
    Sie lachten eine Weile. Eine gute Weile. Mit langsam zunehmender Lautstärke.
    Das Haustelefon summte. Eine Frauenstimme sagte:
    »Sara? Im Vernehmungsraum ist alles klar.«
    Sara Svenhagen gelang es, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. Sie sagte: »Okay, Kerstin. Wir kommen.«
    »Kann ich die Fotos durchsehen, während ihr sie verhört?«
    »Ja, sicher. Bring Anders mit. Es gibt eine ganze Reihe Leckerbissen dabei. Besonders einen.«
    »Darauf habe ich gewartet«, sagte Kerstin Holms Stimme.
    Sara und Lena mussten ihr Denken neu kalibrieren. Das dauerte eine Weile. Es war Zeit für einen radikalen Stimmungswechsel.
    Sie traten in den Korridor hinaus.
    Lena Lindberg sagte: »Wie wollen wir es angehen?«
    »Wir werden so nett sein wie möglich«, sagte Sara Svenhagen.
    »Was glaubst du? Ist sie schuldig?«
    »Alles andere wäre reichlich abwegig. Die Frage ist vor allem, wessen sie schuldig ist. Aber wir müssen unvoreingenommen an die Sache herangehen. Hast du die Papiere?«
    Lena wedelte kurz mit Bengt Åkessons Mappe. Sie waren da. Einen Augenblick blieben sie vor dem Vernehmungszimmer stehen.
    »Nach dir«, sagte Sara und öffnete die Tür.
    In dem engen Raum saß ein zartes dunkles Mädchen, das keinen Tag älter als achtzehn zu sein schien. In Wirklichkeit war sie dreiundzwanzig. Seit einigen Monaten hieß sie Rosa Beckman. In den über zweihundertfünfzig voraufgegangenen hatte sie Naska Rezazi geheißen.
    Sara Svenhagen fragte sich, ob sie allein auf den Namen gekommen war. Rosa Beckman.
    Sie traten ein und begrüßten die junge Frau. Sie sah unendlich traurig aus. Als trüge sie an einer schweren Trauer, einer von der Art, die weit über den reinen Verlust hinausgeht.
    »Ich bin Sara Svenhagen«, sagte Sara und setzte sich, »und das ist meine Kollegin Lena Lindberg. Wir sind Inspektorinnen bei der Reichskriminalpolizei.«
    Die junge Frau blickte zu ihnen auf und sagte: »Ich weiß nicht mehr, wie ich mich vorstellen soll. Es muss wohl ein dritter Name sein. Damit ich nicht im Gefängnis ermordet werde.«
    »Warten wir erst einmal ab, was mit dem Gefängnis wird«, sagte Sara. »Keine voreiligen Schlussfolgerungen. Ist es in Ordnung, wenn wir dich Naska nennen?«
    »Warum nicht? Es gibt zwei Sorten Namen: solche, die man ist, und solche, die man hat. Ich habe mehr als zwanzig Jahre lang geglaubt, ich wäre Naska. Jetzt weiß ich, dass das ein Irrtum war. Ich werde nie mein Name sein.«
    »Was hat dazu geführt, dass du den Namen wechseln musstest?«
    »Das steht doch wohl alles in euren Papieren.«
    »Es ist besser, du erzählst es selbst.«
    »Ich habe versucht, Schwedin zu werden. Ich mag meine kurdischen Wurzeln, aber es sind eben Wurzeln. Jetzt lebe ich in Schweden. Und es war nicht meine Entscheidung, hierherzuziehen.«
    »Ein Mann ist für dich ausgesucht worden?«
    »Ein vierzigjähriger kurdischer Bauer, der gerade erst nach Schweden gekommen war. Es war unmöglich. Da fing mein Vater an, mir zu drohen. Und er bekam Nedim auf seine Seite.«
    »Deinen älteren Bruder?«
    »Ein Jahr älter als ich. Wir waren mehr wie Zwillinge.«
    »Nachdem Nedim dich misshandelt hatte, bekamst du eine neue Identität, nicht wahr? Das war im Januar, zu Hause in Norrköping?«
    »Was ist geschehen, Naska?«
    »Er hat mich mit dem Messer geschnitten und mir gedroht. Schnittwunden auf den Wangen. Streifen. Man kann sie noch sehen. Aber der Arzt hat gesagt, sie würden verschwinden. ›Die Zeit heilt alle Wunden‹, hat er gesagt.«
    »Im Winter bist du nach Tensta gekommen und hast eine Arbeit als Reinigungskraft gefunden.«
    »Ich wollte an der Uni anfangen, aber ich habe so schlechte Noten. Ich hatte nie die Möglichkeit, zu Hause zu lernen. Immer musste etwas anderes getan werden. Jetzt habe ich wieder im Gymnasium angefangen. Als Rosa Beckman. Aber Rosa bekommt nie ein Abschlusszeugnis.«
    »Was willst du werden, Naska?«
    »Ich möchte Tierärztin werden«, sagte Naska, und das erste schwache Lächeln huschte über ihre Lippen. »Ich habe Tiere gern.«
    »Und gestern früh bist du nach Hause gegangen und hast dich an den Küchentisch gesetzt und nachgedacht. Und du bist darauf gekommen, dass der einzige Ort, an dem du Ruhe hättest, Tiermedizin zu studieren, das Gefängnis wäre. Dass es am einfachsten

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