Ungezaehmte Begierde
begegnete Hawkes forschendem Blick. »Eine der beiden Frauen, die der Klon in meiner Vision angegriffen hat, ist doch nicht gestorben. Die FBI-Agentin. Ich habe gerade dabei zugesehen, wie sie den nächsten Mord beobachtet hat. Ich habe zwar ein paar Fetzen mitbekommen können, aber nichts Brauchbares.«
»Interessant«, murmelte Hawke.
»Ich habe auch die Bissspuren an ihrem Hals gesehen. Es ist dieselbe Frau.« Als wenn er das Gesicht vergessen könnte, das er in den letzten vierundzwanzig Stunden im Geist permanent vor Augen gehabt hatte.
Hawkes Miene nahm diesen abwesenden Ausdruck an, wie sie es immer dann tat, wenn sein Geist mit Lichtgeschwindigkeit arbeitete. »Wahrscheinlich hatte sie Unterstützung. Wenn ihr Partner auf den Klon geschossen hat, während er ihre Lebensenergie aussaugte, hat er bei dem Einschlag vielleicht versehentlich etwas von seiner eigenen Energie wieder in sie hineinfließen lassen und ist geflohen, ohne ganz zum Ende gekommen zu sein.«
Tighe starrte finster vor sich hin. »Willst du damit sagen, dass sie jetzt auch ein Stück von meiner Seele hat?«
»Nein. Nicht von deiner Seele. Eine Seele kann nur mit wahrer Magie gespalten werden. Aber ich glaube, dass sie mit der Lebenskraft deines Klons in Berührung gekommen ist. Gerade so, dass sie nur noch zu 99,9 Prozent ein Mensch ist.«
Tighe knurrte. »Gerade genug also, um alles zu verderben.«
»Wahrscheinlich.«
»Schnapp dir deinen Laptop, Hawke, und fang an zu hacken. Ich brauche die Adresse von FBI-Agentin Delaney Randall.«
»Wir suchen sie also?«
»Nicht wir. Ich . Ich gehe allein. Das FBI weiß schon, wie ich aussehe.«
Kougar zupfte an seinem Ziegenbärtchen. »Bring sie um. Sie darf nicht zwischen dir und deinem Klon stehen.«
Tighes Magen krampfte sich zusammen, als er in Kougars blasse Augen sah, die so kalt wie die eines Mörders waren. Nicht zum ersten Mal dankte er dem Schicksal, dass dieser Krieger sein Freund und nicht sein Feind war.
»Du kannst dich darauf verlassen, dass dieser Klon sterben wird«, erklärte Tighe. »Und niemand, niemand , wird mich dabei aufhalten.«
Aber er erinnerte sich noch ganz genau an seine Wut, als er zuerst gedacht hatte, dass er dazu bestimmt sei, sie umzubringen.
Sie darf nicht sterben.
4
Delaney befand sich in der Außenstelle des FBI und drückte den Aufzugsknopf; in ihrem Kopf pochte es. Die sechs Aspirin, die sie im Verlauf des Nachmittags geschluckt hatte, hatten kein bisschen geholfen. Aber Aspirin war wohl auch kaum das richtige Mittel, um ihr die Anspannung zu nehmen. Jeden Augenblick musste sie damit rechnen, in ihrem Kopf Zeugin eines weiteren Mordes zu werden. Heute Nachmittag waren es bereits drei gewesen. Drei.
Und jeder grausamer als der vorangegangene.
Was hatte dieser Mistkerl mit ihr gemacht?
Wenn sie schon übersinnliche Kräfte bekam, wieso konnte es dann kein Röntgenblick sein? Oder vielleicht die Fähigkeit zu fliegen? Todesvisionen standen absolut nicht auf ihrer Wunschliste.
Nein, das war gelogen. Sie würde alles in Kauf nehmen, wenn es ihr nur bei der Ergreifung des Mörders half. Leider hatte sie bei keinem der Morde, die sie bislang beobachtet hatte, irgendeinen Hinweis erhalten. Und bei jeder neuen Vision sah sie weniger. Und litt mehr. Beim letzten Mal wäre sie beinahe ohnmächtig geworden.
»Wollen Sie schon gehen?«
Delaneys Blick glitt zu ihrem Boss, der mit einem Kaffeebecher von Georgetown Hoyas in der Hand an ihr vorbeikam. Phil Taylor war in den Fünfzigern; körperlich schien er zwar nicht mehr so ganz in Form, doch sein Verstand war scharf wie eh und je und seine Augen sahen deutlich zu viel. Was manchmal ziemlich auf die Nerven ging.
»Es ist nach sieben, Sir. Für mich ist das neuerdings schon ziemlich spät.« Sie lächelte ihn an und versuchte einen vollkommen unschuldigen Ausdruck auf ihr Gesicht zu zaubern. »Ich habe mir Ihren Vortrag zu Herzen genommen. Ich arbeite fünfzig Stunden in der Woche. Keine Minute länger.«
Phil lachte. »Und ich bin der Osterhase. Kommen Sie einen Augenblick in mein Büro, bevor Sie gehen, Agent Randall.«
Delaney gab sich keine Mühe, ihr Stöhnen zu unterdrücken, als sie neben ihm herlief. Phil wusste, dass sie seine väterlichen Vorträge hasste. Er war aber ein guter Kerl und hatte ein ehrliches Interesse am körperlichen und geistigen Wohlergehen seiner Mitarbeiter, was ihn zu einem hervorragenden Boss machte. Doch sie hatte seine Mahnungen – sie müsse bei ihrer Arbeit das
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