Ungezaehmte Leidenschaft
Elizabeth.
»Ja«, sagte Virginia. »Dad war immer freundlich. Ich kann mich nicht entsinnen, dass er jemals in Zorn geraten wäre. Wenn er uns besuchte, brachte er mir immer Geschenke.«
Es bedurfte keiner Erklärung, dass die kleinen Geschenke als stumme Entschuldigung für sämtliche gebrochenen Versprechungen und versäumten Besuche gedacht gewesen waren.
»Hat er dich in Museen und in Vergnügungsparks geführt?«, fragte Elizabeth.
Eine vergessene Erinnerung huschte durch Virginias Kopf. »Mir fällt ein Besuch im Museum ein. Damals war ich in deinem Alter. Dad wollte mir einige Artefakte zeigen, von denen er glaubte, sie wären mit paranormaler Energie aufgeladen.«
»Das muss aber aufregend gewesen sein«, sagte Elizabeth.
»Das war es. Es war der Tag, an dem er mir eröffnete, dass ich eine kleine Schwester hätte. Er sagte, er freue sich schon, dir die Artefakte zu zeigen, sobald du alt genug wärst, um die Energie in ihnen zu spüren. Er sagte auch, das Paranormale sei Teil unseres Erbes, und wir sollten es begreifen.«
»Er sprach von mir?«, fragte Elizabeth aufgeregt.
»O ja«, sagte Virginia. »Er hat dich sehr lieb gehabt.« Sie sah Helen an. »Und auch deine Mutter. Er war stolz auf beide.«
Helen hob die Brauen.
Virginia sah sie lächelnd an. »Es ist die Wahrheit. Wie meine Mutter einmal sagte, liebte Dad auf seine ihm eigene Weise beide Familien.«
Als Virginia eine halbe Stunde später ging, brachte Helen sie an die Tür. »Ich hoffe sehr, Sie besuchen Elizabeth bald wieder, Miss Dean«, sagte sie. »Bitte. Sie sollen wissen, dass Sie in diesem Haus stets willkommen sind.«
»Das ist sehr liebenswürdig, Madam.«
»Nennen Sie mich Helen«, sagte Elizabeth’ Mutter.
»Sie müssen mich Virginia nennen wie Elizabeth auch.«
Der Butler öffnete die Haustür. Virginia war erstaunt, als Helen sie hinaus auf die Treppe begleitete, außer Hörweite des Bediensteten.
»Er war kein schlechter oder gar böser Mensch, nicht wahr?«, fragte Helen leise.
»Gewiss nicht. Dad verstand es eben, sein Leben zu genießen.«
»In vollen Zügen«, gab Helen trocken zurück. »In seiner unbändigen Lebenslust war ihm das Glück anderer keinen Gedanken wert.«
»Ja.«
»Nie wollte er an die Folgen seiner Handlungen denken, und er musste es auch nicht. Mit seiner Haltung kam er durch, weil er alle, zumal alle Frauen in Reichweite seines Lächelns, mit seinem Charme um den Finger wickeln konnte.« Helen schüttelte wehmütig den Kopf. »Ich schwöre, dass dies sein eigentliches psychisches Talent war.«
»Du magst recht haben«, sagte Virginia.
Helen fixierte sie mit eindringlichem Blick. »Aber eines muss man ihm lassen: Er hat zwei wunderbare Töchter in die Welt gesetzt, auf die er sehr stolz gewesen wäre. Noch einmal vielen Dank für deine Freundlichkeit Elizabeth gegenüber.«
»Sie ist meine Schwester.«
»Und wir sind auf immer als Familie verbunden«, sagte Helen. »Vergiss das nicht.«
Virginia blickte zur anderen Straßenseite und sah Owen mit verschränkten Armen an der schimmernden schwarzen Sweetwater-Kutsche lehnen.
»Ich werde bald heiraten«, sagte Virginia.
Erstaunen huschte über Helens Gesicht. Sie fasste sich aber rasch und lächelte. »Meinen Glückwunsch.« Sie sah zu Owen und dem eleganten Gefährt hinüber. »Darf ich fragen, ob dies dein Verlobter ist?«
»Ja. Mr. Sweetwater.« Virginia winkte Owen zu sich. »Ich mache euch miteinander bekannt.«
Helen sah, wie Owen sich aufrichtete und auf sie zukam. »Sweetwater. Ich habe den Namen schon gehört. Eine alte Familie, glaube ich. Sonst weiß ich nichts über sie.«
»Die Sweetwaters halten sich von der Gesellschaft fern«, sagte Virginia.
Owen, der die Straße zur Hälfte überquert hatte, lächelte ihr zu.
»Darf ich dir eine persönliche Frage stellen, Helen?«, fragte Virginia.
»Meine Tochter hat dir heute viele persönliche Fragen gestellt. Da ist es das Mindeste, dass ich dir eine beantworte.«
»Da ich meinen Vater kannte, kam mir ab und zu der Gedanke, dass Dad mich in seinem Testament nicht berücksichtigt haben könnte, obwohl er sicher beabsichtigte, mich zu versorgen.«
Helen riss ihren Blick nicht von Owen los. »Ich weiß nicht, was du meinst, Virginia.«
»Auch wenn er mich in seinem Testament bedachte, kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich die Mühe machte, dafür zu sorgen, dass ich nach seinem Tod Miss Peabodys Schule für junge Damen besuchen konnte. Er hat wohl angenommen, meine Mutter
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