Ungezaehmte Leidenschaft
den Spiegel und verharrte eine Weile wortlos. Wenig später drehte sie sich mit einem nicht gleich zu deutenden Blick zu Owen um.
»Der Spiegel hängt schon sehr lange über dem Kamin«, sagte sie. »Er birgt Schatten, die nicht deutlich zu erkennen sind. Ganz sicher keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod.«
»Das ist sehr wahrscheinlich so. Die Tote wurde in einem Raum im Obergeschoss gefunden. Auf dem Frisiertisch steht ein Spiegel.«
Sie gingen hinaus in den Flur und die schmale Treppe hinauf.
»Mir fiel auf, dass der Spiegel über Ihrem eigenen Kamin neu ist«, sagte er.
»Ich erwarb ihn, als ich das Haus mietete. Den alten, der dort hing, und einen zweiten aus dem vorderen Flur habe ich abgehängt.«
»Sie mögen alte Spiegel nicht?«
»Im Laufe der Jahre absorbieren Spiegel Energie. Die alten enthalten viele Schatten. Ich finde sie verstörend.«
»Aber Mrs. Ratford behielt den alten in diesem Haus.«
»Vielleicht konnte sie es sich nicht leisten, ihn zu ersetzen. Möglich ist auch, dass er sie nicht sehr störte. Sie besaß Talent, war aber keine starke Spiegel-Deuterin. Nur starke Deuterinnen finden alte Spiegel beunruhigend.«
Am oberen Treppenabsatz hielten sie inne. Das Licht ihrer Lampe fiel auf drei Türen – zwei standen offen, die am anderen Ende des Ganges war geschlossen.
»Das ist der Raum, in dem sie starb«, sagte Owen.
Beide hörten das gedämpfte Geräusch gleichzeitig. Ein Klirren und Scharren drang aus der ersten offenen Tür.
»Was um Himmels willen ist das?«, flüsterte Virginia.
Owen hielt die Lampe schräg, um besser sehen zu können. Aus dem dunklen Raum tauchte ein wunderschön gearbeiteter mechanischer Drache von der Größe eines kleinen Hundes auf, sein gegliederter kristallbesetzter Schwanz schlängelte hin und her. Lange vergoldete Klauen scharrten über den Boden. Aus den Glasaugen strahlte ein kaltes, bezwingendes paranormales Feuer.
»Wieder eine dieser verdammten Waffen«, sagte Owen. »Woher kann sie kommen? Bei meinem letzten Besuch war sie noch nicht da.«
Er packte Virginias Arm und zog sie zurück zur Treppe. Sie ließ sich mitziehen, doch es war zu spät. Dunkler Nebel senkte sich über sie. Der Albtraum explodierte und überflutete den Gang mit höllischen Visionen aus den Fieberträumen eines Wahnsinnigen. Tote und Sterbende bedrängten sie, die Münder zu stummen Schreien aufgerissen.
10
Alle grausigen Schatten, die Virginia in Spiegeln gesehen hatte, seit sie sich als Dreizehnjährige ihres Talents bewusst geworden war, tauchten in dem gespenstischen Nebel auf, der den Gang füllte. Die Sterbenden starrten sie mit entsetzten, vor Angst geweiteten Augen an, als spürten sie, dass sie Zeugin ihres Todes war. Sie flehten nicht um Rettung. Sie wussten, dass es keine Hoffnung gab. Sie baten sie um etwas anderes, um etwas, was sie ihnen fast nie verschaffen konnte: Gerechtigkeit.
Die grässlichen Visionen wirbelten so heftig um Virginia herum, dass sie plötzlich Schwindel verspürte und ihr Magen revoltierte. Einen Moment lang glaubte sie, sich übergeben zu müssen, dann merkte sie, dass sie sich in dem sonderbaren Nebel nicht orientieren konnte. Oben und unten waren nicht zu unterscheiden. Ein falscher Schritt, und sie drohte die Treppe, die sie nicht mehr sehen konnte, hinunterzustürzen.
Die Stimme, die nun aus dem Nebel drang, verriet die grimmige Entschlossenheit eines Mannes, der sich mittels schierer Willenskraft gegen den Wahnsinn zur Wehr setzte.
»Halluzinationen«, keuchte Owen. »Sofort hinlegen. Diese Energie ist so undurchdringlich, dass wir die Treppe nicht finden.«
Er hielt noch immer ihren Arm und zwang sie nun in die Knie. Sich an den Händen haltend, krochen sie rückwärts weiter, ertasteten die Richtung, bis sie gegen etwas Hartes stießen. Die Wand, dachte Virginia. Nun hatte sie wenigstens ein Gefühl für die Richtung.
»Es ist Spiegelenergie«, sagte sie. »Dieselbe Energie, die in der mechanischen Kutsche wirksam war. Aber hier ist sie so stark. Ich fühle mich wie in einem Albtraum gefangen. Ich kann mein Talent nicht drosseln.«
»Ich auch nicht«, sagte Owen. »Die Stimulierung ist zu stark. Die Strahlung ist so intensiv, dass sie unsere Sinne elektrisiert.«
»Dieses Ding ist viel stärker als der Wagen.«
»Ich glaube, der Wagen wurde geschaffen, um Bewusstlosigkeit hervorzurufen. Aber dieser Drache wurde geschaffen, um zu töten.«
»Oder um jemanden in den Tod zu treiben«, sagte Virginia.
»Können Sie ihn
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