Ungezaehmte Leidenschaft
müssen wir Dr. Spinners Therapie ernsthaft in Betracht ziehen.«
»Stimmt, aber leider kann ich mich Dr. Spinners Behandlung erst unterziehen, wenn ich Mr. Sweetwater bei seinen Ermittlungen geholfen habe.« Virginia trank aus und stellte ihre Tasse ab. Dann stand sie auf. »Hoffen wir, dass meine Nerven so lange durchhalten, bis ich diese Sache erledigt habe und ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen kann.«
8
Es war spätnachmittags, als Virginia den Bücherladen ihrer Freundin verließ. Es dämmerte schon, die Bauten beidseits der schmalen Straßen ragten düster im unheimlichen grauen Zwielicht auf. Der Nebel war so dicht, dass sie den Wagen vor ihrem Haus erst sehen konnte, als sie die Eingangstreppe fast erreicht hatte.
Owen sprang aus der Droschke und kam auf sie zu. Er trug einen langen dunklen Mantel und einen Hut, den er tief über die Ohren gezogen hatte. Bei seinem Anblick flammte tief in ihr freudige Erregung auf. So war es auch gewesen, als er am Tag zuvor ihr Arbeitszimmer betreten hatte. Auf seine Nähe reagierte sie auf eine neue, ihre Sinne berauschende Weise, die sie allerdings verwirrend fand, da sie diese Reaktion noch nie bei einem Mann erlebt hatte.
Am Fuß der Haustreppe blieb sie stehen, ein angenehmes Gefühl auskostend, das sie seit Langem nicht mehr verspürt hatte. Sie brauchte ein oder zwei Herzschläge, um das Gefühl zu definieren. Trotz der jüngsten Ereignisse fühlte sie sich glücklich und frohgemut.
Virginia lächelte. »Mr. Sweetwater, ich hatte Sie nicht erwartet.«
»Ich habe auf Sie gewartet«, sagte er ungehalten. »Ihre Haushälterin sagte, Sie seien zu Besuch bei einer Freundin.«
Die Erregung in ihrem Inneren ging jäh in Unmut über. Der positive Aspekt des Alleinseins war, dass eine Frau sich vor keinem Mann rechtfertigen musste.
»Ja, ich habe eine Freundin besucht«, sagte sie spröde. »Es geht Sie eigentlich nichts an, Sir.«
»Ich hatte gehofft, Sie würden unter den gegenwärtigen Umständen Ihren Tagesablauf vorsichtiger planen. Sie wissen ja, dass ich Ihr Haus nachts beobachten lasse, hielt es aber tagsüber nicht für nötig.«
Sie reckte ihr Kinn. »Was haben Sie erwartet, Sir? Dachten Sie, ich würde mich im Haus einschließen und vor dem Kamin sitzen, bis Sie Ihre Ermittlungen beendet haben? Leider wird das nicht möglich sein. Ich muss Geld verdienen.«
»Das ist mir klar. Aber mir missfällt die Vorstellung, dass Sie allein ausgehen, während ein Mörder frei herumläuft, der Jagd auf Frauen mit Ihrem Talent macht.«
»Ich bin ja nicht dumm, Mr. Sweetwater. Ich habe mich nur in belebten Straßen aufgehalten und dann einige Zeit mit meiner Freundin in deren Laden verbracht. Allein war ich nie. Ich bin weder durch dunkle Gasse gegangen noch habe ich Abkürzungen genommen. Ich habe es sogar geschafft, Einladungen auszuschlagen, mit Fremden mitzufahren … Einladungen, die es nicht gab.«
Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie haben natürlich recht. Es steht mir nicht zu, Ihnen vorzuschreiben, wie Sie Ihre Tage verbringen.«
»Ist das eine Entschuldigung?«
»Nein, eine Feststellung. Eine Entschuldigung hat wenig Sinn, da ich Sie in naher Zukunft sehr wahrscheinlich des Öfteren ermahnen werde.«
»Warum denken Sie das?«
»Weil ich um Ihre Sicherheit bemüht bin und einen Mörder zu finden versuche, verdammt. Und weil ich von uns beiden derjenige bin, der einige Erfahrung mit Monstern hat.«
»Mir ist klar, dass Ihre Absichten ehrenhaft sind, Sir«, sagte Virginia schon sanfter. »Das Problem ist nur, dass Sie es offenbar gewöhnt sind, Befehle zu erteilen, während ich so gar nicht daran gewohnt bin, Befehle zu befolgen.«
»Das sehe ich.«
»Sicher werden wir uns irgendwie arrangieren. Also, warum sind Sie gekommen? Gibt es Neuigkeiten?«
Momentan glaubte sie, er würde die Glut ihrer Meinungsverschiedenheit zu einem ausgewachsenen Feuer aufflammen lassen. Er kam aber offenbar zu dem Schluss, dass die Logik nicht auf seiner Seite war, und räumte das Feld. Nur ein zeitweiliger Rückzug, wie sie argwöhnte.
»Ich möchte, dass Sie mich später am Abend zum Haus Mrs. Ratfords, einer der ermordeten Spiegellicht-Deuterinnen, begleiten«, sagte er. »Mir fielen mindestens zwei Spiegel im Inneren auf. Vielleicht können Sie in zumindest einem etwas sehen, das uns weiterhilft.«
Ein erregendes Vorgefühl erfasste sie. »Ja, natürlich.« Sie ging die Stufen zur Haustür hinauf. »Warum stehen wir hier herum? Kommen Sie doch mit
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