Ungleiche Paare
sensible Kunstbetrachtung vorgeschrieben hat: gemessenes Flanieren mit wachem Blick, gebremst durch kundiges Verweilen, hier nur kurz, dort etwas länger, hier die Stirn runzeln, dort lächeln.
»Bitte nicht berühren!«, raschelte es hinter meinem Kopf. Die feuerrote Wärterin, die ihre Stimmbänder an diesem Tag wenig benutzt hatte, schritt in einer priesterlichen Wolke aus Staub und Würde vorüber. Die Kreuzgewölbe leiteten ihre Worte weiter wie Flüsterbögen. Ich hatte lediglich einen sandsteinernen Zeh berührt; das sollte Glück bringen! Aber Josephine warf mir einen erzieherischen Blick zu und schüttelte ratlos den Kopf. In ihrer Einschätzung hatte ich soeben den Rang eines Vaters verlassen, in Richtung eines desorientierten Seniors.Sie würde ab sofort Behindertenermäßigung herausschinden.
Ich sah sie mit der Wärterin sprechen.
»Sie suchen das Gothaer Liebespaar?«, fragte die. »Hier entlang.« Dazu winkelte sie graziös den Arm ab.
Ihr junger Kollege, der vortragsbereit am Eingang der Galerie wartete, beobachtete die Szene mit buddhistischem Gleichmut. Vor ihm, auf einer antiken Eichentruhe, war ein Stillleben entstanden, aus einer Thermoskanne nebst zwei Plastikbechern und einem Kuchenteller. Für dieses Paar begann jetzt eine weitere von vielen Kaffeepausen, aus denen der Tag bestand. Hatten die beiden was miteinander? Obwohl die Frau mindestens zwanzig Jahre älter war? Unmöglich.
Wir betraten die Galerie der Leidenschaften. Ein Blick genügte, um von den magischen Kräften erfasst zu werden. Es war eine Galerie der Skandale. Diese Motive waren einst mit Stiften, Federn, Nadeln angeblich zur Warnung auf Tafeln gebannt worden. In Wahrheit leuchtete unerlaubtes Verlangen aus ihnen, eine Sehnsucht nach der ganz anderen Liebeserfahrung, nach den schamduftenden Reichen jenseits des Anstands. Dies war der Tempel der ungleichen Paare.
Ursprünglich hatte der Raum der Andacht gedient, mit einem Kruzifix in der Nische und einem Tischchen für Oblaten und Wein. Unter den Gewölben webte noch die fromme Feierlichkeit, in der das Fürstenpaar auf die Samtkissen gesunken war – schon damals nicht nur zum Gebet. Herzog Ernst, Erbauer des Schlosses, war der Fromme genannt worden, doch seine Gemahlin – um achtzehn Jahrejünger als er – machte das wett. Spät hatte er sich zur Heirat drängen lassen, mit fünfunddreißig, als er sich zu verlieren drohte in den Studien philosophischer Schriften. Die Frau half ihm heraus, überraschend schnell, und die beiden wurden so etwas wie die Kombination von Eremit und Kurtisane, wie vormals Johannes und Maria Magdalena nach der Himmelfahrt ihres Herrn und etwas später Hieronymus und seine Magd oder wie der tibetische Mönchsvater Kalu Rinpoche und seine Gespielin. Auch mein eigenes zenbuddhistisches Zölibat war einst von einer Frau gestört und beendet worden.
Die alte Kapelle war vollgehängt mit dergleichen Bildern. Das also war die Sonderausstellung. Grenzwertige Leidenschaften. Die Werke stammten aus Epochen, die heute als sittenstreng gelten. Doch die Freude der Künstler an riskanten Motiven war unübersehbar. Vorgeblich moralisierend, in Wahrheit voll Lust und Vergnügen, huldigten sie der reifen Frau und dem bebenden Jüngling, dem dunklen Wilden und der hinsinkenden Rose, dem Klosterbruder und seiner liebsten Hexe, der kunstsinnigen Gräfin und ihrem Knecht und nicht zuletzt jenem bekannten Motiv, vor dessen diskriminierende Darstellung ich mich sogleich schützend schob. Es war meine Aufgabe, es abzuschirmen gegen unberufene Blicke.
Ohnehin gebührte alle Aufmerksamkeit dem Hauptwerk des Raumes. Da hing es, von energiesparenden Strahlern hervorgehoben, in der Mitte eines Gewölbebogens.
»Das ist es?«, fragte Josephine.
»Das ist es«, raunte die feuerrote Aufseherin feierlich. Sie war in der Türöffnung stehen geblieben und hatte eine respektvolle Miene aufgesetzt. »Das Gothaer Liebespaar.«
Unter Glas, in vergoldetem Rahmen, schimmerte ein vornehmes Paar. Der Gentleman und seine Geliebte. Vor nachtschwarzem Hintergrund, unter flatternden Spruchbändern, stellten die beiden sich den Blicken wie frischvermählte Royals, die sich vom Balkon aus bejubeln lassen. Sie stützten sich auf eine Brüstung. So sah man sie nur von der Taille aufwärts in hochgeschlossenen Gewändern, auf den ersten Blick sittsam, auf den zweiten entrückt in ein erotisches Geheimnis.
»Das ist es«, wiederholte die Feurige. »Das ist unser Gothaer Liebespaar.«
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