Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unguad

Unguad

Titel: Unguad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Werner
Vom Netzwerk:
und hatte keinen Geistesblitz. Warum
tötet einer die Elvira? Sie war wahrlich nicht die beste Pflegerin, aber
deswegen wird man ja nicht umgebracht! Oder?«
    »Es steht doch gar nicht fest, dass sie ermordet wurde, Karin! Bist
du da mit deinen Schlussfolgerungen nicht etwas zu forsch?« Ein Ausdruck
väterlicher Nachsicht lag auf seinem Gesicht.
    Ich zog die Nase kraus. Manchmal behandelte er mich noch wie ein
kleines Kind. Ȇberleg mal! Was sollte es denn anderes sein? Du wirst schon
sehen, ich habe recht. Hast du sie denn gestern gesprochen?«
    Mein Vater betrachtete mich eine Weile nachdenklich, dann gab er
nach. »Gestern früh war sie noch unausstehlicher als sonst. Sehr unhöflich! Hat
mir nicht zum Geburtstag gratuliert und das Frühstück fast auf den Tisch
geschmissen. Ich habe sie zur Rede gestellt, aber sie hat mir nicht einmal
zugehört, sondern ist einfach aus dem Zimmer gegangen. So als ob ich gar nichts
gesagt hätte! Skandalös, dieses Benehmen!«
    Ich betrachtete nachdenklich seinen kritisierenden Gesichtsausdruck.
Für ihn waren tadellose Manieren schon immer sehr wichtig gewesen. Schließlich
stammte er aus einer alteingesessenen Familie in Pécs. Auch wenn er auf der
Flucht alles verloren hatte und in Deutschland wieder ganz von unten anfangen
musste, hatte er seine gute Erziehung nicht vergessen. Und je älter er wurde,
desto mehr lebte er in dieser früheren Welt. Mit den heutzutage fast schon
normalen ruppigen Umgangsformen konnte er gar nicht umgehen. Manche Leute
meinten darüber hinaus, dass sie betagte Menschen, die auf ihre Hilfe
angewiesen waren, nicht höflich behandeln müssten. Elvira war eine von ihnen.
Daher hatte mein Vater mit ihr auf Kriegsfuß gestanden.
    »Ja, die Elvira ist schlimm. War schlimm. Weißt du, ob sie gestern
Morgen Ärger hatte?«
    »Keine Ahnung. Frag doch die anderen Pflegerinnen. Vielleicht sagt
ja eine von ihnen etwas. Am besten Schwester Marion. Die hat Verstand.«
    Mein Vater lehnte ermattet seinen Kopf zurück und schloss die Augen.
Der gestrige Tag hatte anscheinend an seinen Kräften gezehrt.
    Ich schaute zu meiner Mutter hinüber, die emsig an ihrem
Kreuzworträtsel arbeitete. Sie hatte an unserer Unterhaltung nicht
teilgenommen. Das tat sie nur noch selten. Krankheitsbedingt. Wenn das
Gedächtnis immer mehr nachlässt, weiß man immer weniger zu erzählen.
Wahrscheinlich konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, dass ich gestern
Elvira tot aufgefunden hatte. Ich musste das überprüfen.
    »Mama, wird dir die Elvira abgehen?«
    Mein Vater schnalzte gereizt mit der Zunge. Er mochte es nicht, wenn
ich ausprobierte, wie schwach die geistige Leistungsfähigkeit meiner Mutter
schon geworden war. Ich machte das jedoch nicht aus Gemeinheit, sondern weil
ich es nicht fassen konnte, dass sie schon so vergesslich geworden war. Ich
wollte es nicht wahrhaben, musste es mir immer wieder beweisen.
    Erst nach einer Weile sah sie von ihrem Heft auf. Sie rückte ihre
goldene Brille zurecht und blinzelte. »Hast du etwas zu mir gesagt?«
    »Ja. Ich wollte wissen, ob du die Elvira vermissen wirst.«
    Sie blickte mich verständnislos an. Was ihre Tochter immer für
seltsame Fragen stellte! »Die Elvira? Nein. Ist sie denn weggegangen?«
    »Sie ist tot, Mama.«
    »Tot? Stimmt das, Tibi?«, wandte sie sich hilfesuchend an ihren
Mann. Zustimmend neigte er langsam seinen Kopf. Sie schaute von ihm zu mir,
konnte mit dieser Information nichts anfangen. Irritiert fasste sie sich mit
einer blassen Hand an ihre Brosche.
    »Ist schon gut, Mama. Was gibt es denn heute bei euch zum Mittagessen?«
    Damit war sie abgelenkt, suchte ihren Wochenspeiseplan, fragte nach
dem heutigen Tag, fand die richtige Spalte. »Apfelstrudel mit Vanillesoße.« Sie
war zufrieden.
    »Das ist ja prima. Lasst es euch schmecken.« Ich erhob mich und
stellte den Besucherstuhl an seinen Platz.
    »Ich schau mich draußen ein bisschen um«, sagte ich zu meinem Vater
und verabschiedete mich von ihnen.
    »Bussis an die Kinder!«
    »Ja, Mama.« Als ich mich noch einmal in der Tür umdrehte, schien
mein Vater wieder zu schlafen und meine Mutter war über ihre Rätsel gebeugt. Es
war nicht leicht, mit anzusehen, wie die Eltern sich immer mehr auflösten. Für
mich nicht.
    Zehn Uhr fünfzehn
    Im Schwesternzimmer war niemand. Wie so oft. Es waren einfach zu
wenige Schwestern und Pflegerinnen für die vielen Heimbewohner. Sie hatten
nicht genug Zeit für ihre Arbeit und mussten immer mehr in immer

Weitere Kostenlose Bücher